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Schwierige Kindheit

Mutiger Blick zurück: Wie Peter Gross seine Vergangenheit in einem Buch verarbeitet und damit auf Missstände der IV aufmerksam machen möchte

Mit seinem Buch «Ohne Sprungtuch - Ich bat um Hilfe und landete ganz unten» möchte Peter Gross anderen Menschen in einer gleichen oder ähnlichen Lebenslage Mut machen und auf die Missstände der IV und deren Gutachter aufmerksam machen.

Dzana Muminovic am 18. April 2024

Herr Gross, in Ihrem Buch blicken Sie auf eine schwierige Kindheit zurück. Können Sie mir einen Einblick in diese geben und mir mehr darüber erzählen, warum sie so schwierig war?

Meine ersten zehn Lebensjahre verbrachte ich mit einem gewalttätigen Vater. Meine Kindheit war daher von viel körperlicher Gewalt geprägt. Nach der Scheidung lernte meine Mutter einen neuen Partner kennen. Für mich wurde es damit nicht einfacher. Da ich nicht in das «Familienbild» passte, wurde ich jahrelang in mein Kinderzimmer verbannt. Das Zimmer verliess ich nur noch für den Toilettengang und die gemeinsamen Mahlzeiten.

Mit welchem Gefühl blicken Sie heute auf Ihre Kindheit zurück?

Es sind keine schönen Erinnerungen. Die Vergangenheit betrachte ich jeweils wie durch einen Schleier. Wenn ich von meinen Erlebnissen erzähle, spüre ich, wie sich mein Körper immer wieder anspannt. Man kann sich das so vorstellen, wie wenn jemand mit der Handorgel musiziert. Zusätzlich vergesse ich zu atmen. Erst wenn ich nach Luft schnappen muss, merke ich, dass ich in meine Kindheit zurückversetzt wurde.

Gab es bestimmte Ereignisse in Ihrer Kindheit, die Ihren Charakter geprägt haben?

Meine Lebenspartnerin sagte schon öfters: «Mit dir kann man nicht streiten.» Damit hat sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Immer wenn es kritisch wird, kneife ich und lasse mich auf keine Diskussion ein. Das hat sicher mit meiner traumatischen Kindheitsgeschichte zu tun. Früher wollte ich es immer allen recht machen, auch das ist eine Taktik, um möglichen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Lange Zeit stand mir auch mein Perfektionismus im Weg.

Sie haben erwähnt, dass Sie Patient in der Littenheid und in der Tagesklinik Frauenfeld waren. Wie haben Sie sich dazu entschieden?

Ich wusste das ich etwas ändern muss. Ebenfalls wollte ich meine Partnerin entlasten, die bis zu diesem Zeitpunkt alles alleine mitgetragen hat. So entschied ich mich für die Tagesklinik in Frauenfeld.

Was haben Sie von diesen Aufenthalten mitgenommen?

Mein Selbstwertgefühl wurde gestärkt. In der Gruppe wurde ich als sympathischer und hilfsbereiter Zeitgenosse wahrgenommen. Als ich einmal ein Kompliment bekam, konnte ich es gar nicht annehmen. Ich fragte mich: «Womit habe ich das verdient?» Heute laufe ich nicht mehr geduckt durch das Leben. Heute stehe ich gerade und zeige mich der Welt. Ich bin mit mir im Reinen. Mein neu gewonnenes Selbstwertgefühl wird wahrgenommen. Das merke ich immer wieder, wenn mich die Menschen auf der Strasse grüssen.

Sie möchten mit Ihrem Buch auf Missstände bei der IV und ihren Gutachtern aufmerksam machen. Können Sie das bitte erläutern und Beispiele anführen?

Da auch die IV sparen muss, ist sie unter enormen Spardruck. Das führt mit Sicherheit dazu, dass Menschen mit einer psychischen Erkrankung von den IV-Stellen nicht ernst genommen werden und der hilfesuchende Antragsteller von einem Gutachter, den die IV bestimmt, möglichst schnell wieder als 100% arbeitsfähig eingestuft werden soll.

Welche Missstände haben Sie selbst erlebt?

Mein Gutachter bezeichnete meine Diagnosen, die von verschiedenen Fachleuten gestellt und bestätigt worden waren, darunter die komplexe posttraumatische Belastungsstörung, als falsch und unsinnig. Er bestritt grundsätzlich, dass traumatische Erlebnisse in der Kindheit einen Einfluss auf das Leben eines Erwachsenen haben, wenn dieser eine Zeit lang, manchmal viele Jahre, normal gelebt hat. Ich empfand das Gutachten als schallende Ohrfeige für mich und die beteiligten Psychiater und Psychologen, die allesamt als Ignoranten dargestellt wurden, die ihren Patienten unnötige Befunde aufzwingen. Heute weiss ich, dass der Gutachter einen schlechten Ruf hatte und damals sogar in ein Strafverfahren verwickelt war.

Welche Verbesserungsvorschläge hätten Sie an die IV?

Der Slogan der IV lautet: «Integration vor Rente.» Bei mir wurde dieser nie in die Tat umgesetzt. Daher wünsche ich mir für die Zukunft, dass diese Ämter nicht nur Slogans aussprechen, sondern sie auch in die Tat umsetzen. Menschen wie ich, die Hilfe suchen und wirklich arbeiten möchten, haben es verdient, ernst genommen zu werden. Ansonsten frage ich mich ernsthaft, für was es diese Institution überhaupt gibt.

Warum haben Sie sich dazu entschlossen, Ihre Geschichte in Form eines Buches zu erzählen?

Als ich mich entschloss, meine Geschichte öffentlich zu machen, befand ich mich im freien Fall. Nach dem negativen Vorbescheid der IV, der sich nun auf ein skandalöses Gutachten stützte, war meine Enttäuschung so gross, dass ich begann, alles aufzuschreiben. Mit meinem Buch habe ich ein Ventil gefunden, um das Erlebte zu verarbeiten. Es ist der letzte Therapieschritt, den ich gehen wollte.

Wie lange haben Sie für das Buch gebraucht?

In meinem Kopf war die Geschichte schnell geschrieben. Viel schwieriger war es, ein Konzept und damit einen roten Faden zu finden. Es ist wichtig, ein Buch mit einer gewissen Spannung aufzubauen, damit der Leser von der Geschichte gefesselt wird. Es dauerte etwa acht Monate, bis das fertige Manuskript vor mir lag.

Welche Botschaft möchten Sie ihnen mit Ihrer Geschichte vermitteln?

Auch in meiner grössten Verzweiflung habe ich immer nach vorne geschaut. Heute frage ich mich manchmal selber, woher ich diese Energie genommen habe. Mit meiner eigenen Geschichte habe ich nun die Möglichkeit allen Menschen, die wie ich von den Schweizer Behörden in Stich gelassen werden, ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Obwohl ich keine Unterstützung erhalten habe, kann ich mit meinem Tun ein wichtiges Zeichen setzen.

Wie ist es für Sie, Ihr Buch an verschiedenen Orten zu repräsentieren?

Für mich ist es absolutes Neuland, das ich betrete. Alles, was ich bisher erreicht habe, habe ich aus eigener Kraft geschafft. Da macht es mich schon stolz, wenn ich auf meine vielen Anfragen hin und wieder ein positives Feedback erhalte. Ich hoffe, dass sich durch meine Auftritte neue Türen öffnen und ich so Schritt für Schritt meine Botschaft in die Schweizer Landschaft tragen kann.

Wie haben die Menschen, die Ihre Geschichte gehört oder gelesen haben, reagiert?

Die Reaktionen waren zu über 90% positiv. Es gab Menschen, die nach meinen Erzählungen und Erfahrungen mit der Behörde ungläubig und sprachlos im Raum standen. Sie konnten nicht glauben, dass so etwas in unserem reichen Land passieren kann.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Arbeit als Autor und Aktivist im Bereich psychische Gesundheit?

Mit «Ohne Sprungtuch - Ich bat um Hilfe und landete ganz unten» bin ich mit einem Thema an die Öffentlichkeit gegangen, das viele Menschen in unserem Land interessieren wird. In den Medien ist das Thema mit der IV und ihren Gutachtern ein «Dauerbrenner». Mein Ziel ist es, durch meine offene Art einen wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung psychisch kranker Menschen zu leisten. Mein nächstes Projekt, an dem ich teilnehmen werde, ist das vierte Autobiografie Festival in Heiden. Zusätzlich halte ich im September an den Aktionstagen «Psychische Gesundheit Aargau» ein Referat über meine Erfahrungen. Mit diesem Engagement erhoffe ich mir an weiteren öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können.

Mehr Informationen über Peter Gross und sein Buch «Ohne Sprungtuch - Ich bat um Hilfe und landete ganz unten» finden Sie auf seiner Webseite.

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Autor/in
Dzana Muminovic

Dzana Muminovic (1999) aus der Au hat an der Universität Zürich Kommunikationswissenschaften und Medienforschung studiert. Zurzeit absolviert sie ein Trainee-Programm bei der Galledia AG und arbeitet als Redaktorin bei «Die Ostschweiz».

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