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Historie

Wotans Totenheer und mysteriöse Hügel in der Ostschweiz

Ostschweizerinnen und Ostschweizer gibt es seit Jahrtausenden. Spuren der frühen Bewohner sind noch heute in mystischen Bräuchen und rätselhaften Bauten präsent.

Adrian Zeller am 23. April 2024

Wohl die geheimnisvollsten historischen Bauten in der Ostschweiz sind vom blossem Augen nicht zu sehen. In deutschen Medien werden sie gerne als «Hügeli» bezeichnet. Die neckische Umschreibung steht für 170 Steinhaufen zwischen Bottighofen und Romanhorn auf dem Seegrund.

Sie wurden 2015 eher zufällig bei Vermessungsarbeiten im Bodensee entdeckt. Archäologen vermuten ihre Entstehung in der Jungsteinzeit. Bis heute ist unklar, weshalb ein derart aufwändiges Bauwerk errichtet wurde. Mutmasslich diente es kultischen Zwecken.

Erste Ostschweizer

Weit vorher haben Menschen in der Ostschweiz ihre Spuren hinterlassen. Nach 1900 hat Emil Bächler, Konservator am Naturmuseum St. Gallen, erste menschlichen Spuren bei der Ebenalp entdeckt. Vor 50 000 bis 30 000 Jahren sollen sich dort Jäger aufgehalten haben. Ähnliches gilt auch für das Wildmanndlisloch im Toggenburg sowie für das Drachenloch bis Vättis.

Nomadisierende Jäger

In der folgenden Eiszeit war die Ostschweiz über lange Zeit unbewohnbar. Erst ab 7300 v. Chr. entsprach das Klima den heutigen Durchschnittstemperaturen. Durch die in der Folge entstehende Vielfalt an Pflanzen- und Tierarten, stellten sich jagende und sammelnde Menschen ein. Sie nutzten saisonal unterschiedliche Lagerplätze unter überhängenden Felsen, in Höhlen sowie in zeltartige Behausungen. Entsprechende Spuren fanden Archäologen etwa in der Gegend von Oberriet.

Erste Mühlen

Ab ca. 5500 v. Chr. entwickelte sich ortsgebundene Viehhaltung sowie Ackerbau. In der Region Sevelen bargen Archäologen Steinplatten, auf denen in Handarbeit Getreide gemahlen wurde. Ihr Alter wird auf ca. 4000 v. Chr. geschätzt.

In dieser Phase entwickelten die Menschen die Technik zur Herstellung von Keramikgefässen sowie von Textilien und Werkzeugen. In der Gegend von Rapperswil-Jona konnte eine Steinbeilwerkstatt nachgewiesen werden.

Funde Ostschweiz

Ehrung der Verstorbenen

Aus dieser Zeit stammen aufwändig angelegte Hügelgräber, die den Kelten zugeordnet werden. Eine derartige Totenstätte wurde ab 1997 im Grenzgebiet zwischen den Kantonen Zürich und Thurgau erforscht. Aus einer rund 2500 Jahre alten Grabkammer konnten Skelettreste einer älteren männlichen Person sowie Pfeilspitzen, eine Eisenfibel, eine Perle und ein Gürtelblech geborgen werden.

Derartige Gräber bringen Fachpersonen mit einem Ahnenkult in Verbindung. Die Ausrichtung der Skelette in diesen Hügelgräbern deutet auf einen Bezug zur Sommer- und Wintersonnenwende hin. Oberhalb von Kreuzlingen wurden kunstvoll verzierte Keramikurnen in Grabhügeln gefunden, die die Asche von kremierten Toten enthielten. Ihr Alter wird auf 2600 Jahre veranschlagt.

Wilder Schabernack

Zur Identität der Ostschweiz gehört auch sein spezifisches Brauchtum, das seine Ursprünge zum Teil in grauer Vorzeit hat. Eines dieser kollektiven Rituale ist die «Bochselnacht» in Weinfelden. Am Donnerstag der letzten ganzen Woche vor Weihnachten ziehen Schulkinder mit beleuchteten und mit Schnitzereien verzierten Futterrüben in einem Umzug durch die Gemeinde.

Was heute als harmloser Brauch gepflegt wird, hat weit zurückreichende Wurzeln. Wie die Historikerin Dr. Magdalen Bless-Grabher erläutert, leitet sich das Verb «bochslen» aus den mittelhochdeutschen Wörtern «bochen» und «bosseln» ab. Sie entsprechen den Begriffen schlagen, klopfen, pochen, poltern. Auch das heute gebräuchliche Verb pösseln leitet sich von bosseln ab. Damit sind laut dem Schweizerdeutschen Wörterbuch Idiotikon speziell Streiche von Nachtbuben gemeint.

Totenkulte

Bless-Grabher bringt die Ursprünge der Bochselnächte, die früher an verschiedenen Regionen der Schweiz sowie in Deutschland gepflegt wurden, mit germanischen Totenkulten in Verbindung. «Dass die Bochselnächte gerade am Donnerstag abgehalten wurden, hat wahrscheinlich einen Zusammenhang mit dem altgermanischen Gott Donar, dem der «Donarstag» - eben der Donnerstag – geweiht war», erläutert die Historikerin. Sie fügt an: «Er führte nach altem Glauben die nächtlichen Heere der Toten.» Die auch als Thor bekannte mythologische Figur gilt als Wetter- und Vegetationsgott.

Die Historikerin erwähnt weiter auch den früheren Glauben an das Wotansheer, auch Wodinsheer genannt, das in den Wochen um den Jahreswechsel in den Nächten unterwegs war. Wotan ist der Name eines altgermanischen Hauptgottes. In anderen Kulturkreisen trägt er andere Namen, etwa Odin.

Bräuche verboten

In ihrer ursprünglichen Form der Bochselnacht tobten junge Männer durch die nächtlichen Gassen der Städte und klopften an Türen, Fenster und Läden. «Dabei stellten sie allerlei Unfug an, indem sie z.B. missliebigen Leuten altes Geschirr an die Haustüren schleuderten, so dass die Scherben klirrend auf das Pflaster davor fielen», erklärt Bless-Grabher. Vielerorts wurde die Pflege dieses Brauches zu Beginn der Neuzeit von den Behörden verboten oder in eine zivilisierte Version umgelenkt, so etwa in Weinfelden.

Ahnenkulte

Lärmende Gestalten kommen in unterschiedlichsten Bräuchen vor, Bless-Grabher erwähnt als Beispiel die «schöne und wüeschte Chläus» in Urnäsch, die mit Schellen behangen sind. Auch der Knecht Ruprecht, Begleiter des Nikolaus, soll seinen Ursprung in archaischen Kulten haben.

«Der Mittwinter, vor allem auch die Zeit um die Jahreswende, war ein von Bräuchen und Riten erfüllt, die den Geistern der Toten galten», hält Bless-Grabher fest. In den langen und unheimlichen Winternächten suchten die Totendämonen die Lebenden heim und heischten Opfer, damit die Welt wieder entsühnt werde und Segen einkehren könne.

«Diese Totendämonen wurden beschworen und gebannt, indem sie von den Menschen in Maskengestalt verkörpert und dargestellt wurden», weiss Bless-Grabher. «Zugleich hatte der Lärm in den Winterbräuchen die Funktion, die im Winterschlaf erstarrte Vegetation wieder aufzuwecken.»

Teufel

Schutzritual vor Unheil

In den Tagen um Silvester wird in Innerrhoden «Räuchle» als Schutzritual für Mensch, Tier, Haus und Stall gepflegt. Dazu werden in einer «Räuchlipfanne» Weihrauch und am Palmsonntag geweihte Zweige abgebrannt und gleichzeitig Gebete gegen Unheil gesprochen. Im Dorf Appenzell gehen an Heiligabend Ministranten mit Rauchfass und «Schiffli» durch Wohnungen und Häuser. Dies ist ein Beispiel dafür, wie sich mit der Zeit archaische Bräuche mit der Zivilisation verflochten haben.

Ursprung der Babys

Auch einzelne Bauwerken sind heidnischen und christlichen Sichtweisen vermengt. Ein Beispiel ist die Kirche in Maria Dreibrunnen, zwischen Wil und Münchwilen gelegen. Urkundlich erwähnt wurde das Gotteshaus erstmals um 1275. Ursprünglich war das Gebiet sehr wald- und wasserreich. Zwischen 1937 und 1940 wurde es drainiert.

Um Wasser im Allgemeinen ranken sich verschieden Sagen. Dr. Kurt Derungs bringt sie in seinem Buch «Mythologische Landschaft Schweiz» auch mit Dreibrunnen in Verbindung. Der Ethnologe berichtet von im Mittelland verbreiteten Mythen über die Herkunft der Babys. Angeblich lebten sie vor ihrer Geburt in Schluchten und in Gewässern. Mancherorts kennt man bis heute die Bezeichnung «Chindlibrunnen».

Im Wasser hausten gemäss heidnischem Volksglauben launische Geister, die sich bisweilen in Frauengestalt als Nymphen zeigten und die Ungeborenen bewachten. Ein bekanntes Nymphen-Beispiel ist die Loreley, dem sagenumwobenen Felsen am Rhein.

Auch Findlinge gelten zum Teil als Aufenthaltsort von Babys. In der Ostschweiz ist der «Chindlistein» in Heiden mit entsprechenden Mythen verbunden. Manche dieser Steine zeigen rinnenartige Vertiefungen. Sie sollen ihren Ursprung in archaischen Fruchtbarkeitskulten haben.

Germanische Muttergöttin

Im Weiteren sind bei den Feensagen auch kultische Einflüsse der germanischen Göttin Holda, Holla oder Holle zu erkennen, die auch im Märchen von Frau Holle ihren Niederschlag gefunden hat. Ihr Name variiert je nach Region.

Von der Göttin zur Gottesmutter

Im Laufe der Zeit wandelten sich die Mythen der weiblichen Wesen als Hüterinnen der ungeborenen Kinder zur Gottesmutter Maria als spirituelle Beschützerinnen der Frauen mit Schwierigkeiten während der Schwangerschaft und der Geburt.

Geschwister erblickt

Der Wiler Chronist Carl Georg Jakob Sailer (1817-1870) erwähnt zwei Teiche in Dreibrunnen, die ein Geheimnis bargen. «Waren sie doch nicht bloss die Behälter der Fische, sondern das heilige Gefäss, in dem die Mutter Gottes die noch nicht zum Leben gekommenen Kinder bewacht und bewahrte und den eifrig flehenden Müttern hie und da verabfolgte. Mancher Knabe wollte bei hellem Wasserstande die klare blauen Äuglein eines künftigen Brüderchens oder Schwesterchens ganz deutlich aus dem Grunde heraufblitzen gesehen haben.»

Marienverehrung hält an

Sailer beklagte, dass in jene wundersame Gegend um des Geldes willen dem Torfabbau geopfert und die umgebenden Buchenhaine gerodet wurden. «Die Teiche und ihre Mythe sind verschwunden, eine furchtbare Nüchternheit ist an ihre Stelle getreten; aus ihrem Grunde strecken keine Kindchen mehr ihre Ärmchen dem Licht sehnsuchtsvoll entgegen. Nur der Glaube an die Wundertätigkeit des dortigen Muttergottesbildes ist noch beim Landvolke geblieben und zieht wenigstens noch diese Scharen an schönen Sonntagen zu der sonst gefeierten Stätte.»

Über den Ursprung des Namens «Dreibrunnen» wird spekuliert. Gemäss der einen Vermutung wird damit auf den einstigen Wasserreichtum in der Gegend angespielt. Eine andere Annahme geht von einem historischen Flurnamen aus, der Wasser in eine Geländesenke meint und damals als «Tüwinbronnen» bezeichnet wurde.

Alemannische Flurnamen

Verschiedene heute gebräuchliche Flurnamen haben ihre Ursprünge im Altertum. Ab Mitte des 5.Jahrhunderts v. Chr. wanderten von Osten her die Kelten ins Mittelland der heutigen Schweiz ein. Ihre einstige Anwesenheit manifestiert sich in Flurnamen: der Fussnamen Murg ist vom keltischen Wort «Mora» abgeleitet, er bedeutet Grenze. Die Thur wurde von den Kelten als «Dura» bezeichnet, damit ist Wasser gemeint.

Ungefähr im selben Zeitraum liessen sich von Norden kommend Alemannen in der Ostschweiz nieder. Sie lebten bevorzugt in Höfen und kleine Siedlungen. Einige heutige Ortsbezeichnungen haben ihre Wurzeln bei ihnen. Die Schlusssilbe «-ingen» deute auf eine Siedlung in der Eben hin, die Weiler Hittingen und Beckingen der Gemeinde Braunau dürften daher alemanischen Ursprungs ein. Auch Niederbüren und Oberbüren wurden mutmasslich von den Alemannen gegründet, in ihrer Sprache bedeutet «Bur» Haus.

Mit «Wang» bezeichneten sie ein gewölbtes Gelände, dies trifft auf Oberwangen sowie auf Möriswang bei Wängi zu. Mit der Silbe «Au» wurde Land an einem Gewässer bezeichnet, etwa in Henau.

«Villare» nannten die Vorfahren Rodungsgebiete sowie Siedlungen am Rande eines Hügelzugs. Für die Region Wil sind aus Aufzeichnungen in der Zeit zwischen 754 und 1244 die Namen Wila, Vila und Wile bekannt. In der Region enthalten eine ganze Reihe von Gemeindenamen entsprechende Silben: Uzwil, Ganterschwil, Flawil und weitere mehr.

(Bilder: Adrian Zeller)

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Nach Kommentar von Stefan Schmid

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Autor/in
Adrian Zeller

Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.

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