Fein säuberlich rechnete uns Markus Somm unlängst in seinem Newsletter vor: Die Produktion eines Kilos Tomaten benötigt rund 650 Milliliter Diesel, die Produktion eines Kilos Poulet hingegen «nur» etwa 300-330 Milliliter Rohöl.
Daraus zieht er überaus scharfsinnig den Schluss: "Wer das Klima retten will, isst besser ein Poulet als eine Tomate." Denn: "Die Fakten: Die Produktion einer Tomate benötigt mehr fossile Brennstoffe als die Herstellung eines Poulets."
Es ist ein klassischer Dreisatz, wie er in der Primarschule gelehrt wird: Wenn für die Produktion eines Kilos Tomaten doppelt soviel Treibstoff verwendet wird wie für die Produktion eines Kilos Poulet - wieviel Treibstoff wird dann für die Produktion einer Tomate im Vergleich zu einem Poulet verwendet? Auf jeden Fall dürfte es kaum die doppelte Menge sein - es sei denn, im Garten der Familie Somm wachsen Tomaten gross wie Poulets. Soweit zu den "Fakten".
Doch lassen wir die Feinheiten der Primarschulmathematik - und ebenso die Tatsache, dass man Diesel nicht unbedingt mit Rohöl gleichsetzen kann. Denn in einem Punkt hat Markus Somm natürlich recht: Es ist immer sinnvoll, alte Glaubenssätze, die ohne Beweis geglaubt werden, zwischendurch auch einmal auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.
Nur auf diese Weise findet man die eine oder andere überraschende Tatsache, die man so nicht erwartet hätte. Beispiel Altersvorsorge: Wer hat denn nicht den Glaubenssatz verinnerlicht, dass Frauen tiefere Renten erhalten - so auch bei der AHV. Bis er einmal die AHV-Statistik des Bundesamts für Sozialversicherungen konsultiert und staunt: Die durchschnittliche AHV-Altersrente der Frauen beträgt 1884 Franken, diejenige der Männer aber nur 1862 Franken.
Dasselbe bei den Lebensmitteln: Eine sonnengereifte Tomate aus Spanien mag trotz Transport mit dem Lastwagen in die Schweiz eine bessere Ökobilanz haben als eine hiesige Tomate aus dem Gewächshaus. Wissen tun wir es erst, wenn wir es nachprüfen.
Aber wenigstens in einem Punkt muss man dem "Nebelspalter"-Chefredaktor widersprechen: Der Verbrauch von fossilen Brennstoffen ist nicht der einzig relevante Faktor für die Ökobilanz - auch Wasser- und Landverbrauch spielen eine Rolle. So braucht es für die Produktion eines Kilos Tomaten nur rund 110 Liter, für ein Kilo Poulet hingegen rund 4000 Liter Wasser. Also 1:1 im ökologischen Wettstreit zwischen Tomate und Poulet?
Auch die Schweizerische Gesellschaft für Ernährung bewertet die Umweltbelastung bei der Produktion von 110 Gramm Poulet nach IP-Richtlinien im Inland mit einer "Gesamtpunktzahl" von 1600, wobei die Punktzahl umso höher liegt, je grösser die Umweltbelastung. 120 Gramm Gemüse hingegen kommt bloss auf eine Gesamtpunktzahl zwischen 180 und 350 - je nach Anbaugebiet und Anbaumethode (Freiland oder Treibhaus).
Doch wer jetzt glaubt, dass Tomaten definitiv das umweltfreundlichere Lebensmittel sind, hat die Rechnung ohne den Wirt - bzw. den menschlichen Bauch gemacht.
Denn ebensowenig wie man die Umweltbelastung bei der Produktion einer Tomate mit derjenigen bei der Produktion eines Poulet sinnvoll vergleichen kann, ergibt es Sinn, den Verzehr einer Tomate mit demjenigen eines Poulets vergleichen - ja, es macht nicht einmal Sinn, den Verzehr eines Kilos Tomaten gegen den Verzehr eines Kilos Poulet aufzurechnen.
Der Grund ist einfach: Der Energiebedarf eines Menschen beträgt etwa 2000 Kilokalorien (kcal) pro Tag. Hundert Gramm Poulet haben - wiederum gemäss den Zahlen der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung - einen Brennwert von 168 kcal. Hundert Gramm Tomaten aber nur einen solchen von 21 kcal.
Um den täglichen Gesamtkalorienbedarf zu decken, benötigt man also entweder 1,2 Kilo Poulet - oder fast zehn Kilogramm Tomaten! Es macht also keinen Sinn, die Umweltbelastung von einem Kilo Tomaten gegen diejenige eines Kilos Poulet aufzurechnen - stattdessen müsste man 1,2 Kilo Poulet mit neuneinhalb Kilo Tomaten vergleichen.
Worauf dann die Umweltbilanz für Tomaten wiederum ziemlich schlecht aussieht. Denn für die Produktion von neuneinhalb Kilo Tomaten werden - gemäss den Angaben von Markus Somm - etwa sechs Liter Diesel benötigt. Ende der Geschichte?
Nicht ganz, denn Markus Somm belehrt uns weiter, dass für die Produktion eines Kilos Poulet mittlerweile nicht mehr als 1,82 Kilogramm Mais als Futter benötigt werden. Polenta hat ungekocht einen Brennwert von 334 kcal pro 100 Gramm. 600 Gramm Maisgriess decken somit den täglichen Kalorienbedarf eines Erwachsenen. Mit der Menge Mais, welche für eine Herstellung eines Tagesbedarfs Poulet verfüttert werden, könnte sich ein Erwachsener fast vier Tage ernähren.
Es ist unklar, ob es umweltfreundlicher ist, sich von Tomaten oder von Poulet zu ernähren. Doch etwas ist einleuchtend: Anstatt den Mais an das Poulet zu verfüttern und daraufhin das Poulet zu essen, wäre es auf jeden Fall umweltfreundlicher, direkt den Mais zu essen.
Markus Somm sollte also weder Poulet noch Tomaten, sondern am besten Polenta oder Maisgrütze essen.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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