Will man in reifen Volkswirtschaften so etwas wie Klassengegensätze beschreiben, dann verläuft die Trennlinie entlang der persönlichen wirtschaftlichen Risiken, denen der einzelne Mensch ausgesetzt ist.
Dies gelesen: «Wir sind jedoch der Überzeugung, dass das Rahmenabkommen abgelehnt werden muss und allfällige negative wirtschaftliche Auswirkungen in Kauf genommen werden müssen. Unsere Souveränität hat einen Preis.» (Quelle: Argumente Allianz Kompass / Europa)
Das gedacht: Immerhin, eine ehrliche Aussage der Gegner des institutionellen Rahmenabkommens. Nur, wer bezahlt den Preis für die in Aussicht gestellten negativen wirtschaftlichen Auswirkungen? Die finanziell gut gestellten Unternehmerinnen und Unternehmer, die Kompass / Europa unterstützen? Der ehemalige Fernsehmoderator, der seine Popularität dem gebührenfinanzierten Schweizer Fernsehen verdankt? Die Finanzindustrie? Wohl kaum. Auch diese Rechnung wird nicht den Privilegierten dieser Welt präsentiert. Vielmehr sind es Menschen mit einem bescheidenen Einkommen, die den Preis bezahlen. Ihre Arbeitsplätze sind in Gefahr. Auf der Strecke bleiben der Mann und die Frau von der Strasse. Die sozialen Unterschiede wachsen. Eine Erzählung, die uns bekannt vorkommt. Mit dem traditionellen, von der SP und den Gewerkschaften mit Pauken und Trompeten bewirtschafteten Klassenkampf aus der Frühphase der Industrialisierung hat dies allerdings kaum mehr etwas zu tun.
Will man in reifen Volkswirtschaften so etwas wie Klassengegensätze beschreiben, dann verläuft die Trennlinie entlang der persönlichen wirtschaftlichen Risiken, denen der einzelne Mensch ausgesetzt ist. Auf der einen Seite die politische Klasse, die Beschäftigten des öffentlichen Sektors, deren Anstellung und überdurchschnittlichen Einkommen losgelöst von wirtschaftlichen Veränderungen durch die Steuerzahler garantiert sind. Dazu kommen Rechtsanwälte, Steuerberater, Treuhänder, die Landwirtschaft, das Retailbanking oder Teile der Versicherungswirtschaft, die dank politisch definierten Rahmenbedingungen in geschützten Märkten unterwegs sind. Eine Scheidung, eine Revision, die Hypothek für das Einfamilienhaus oder die Haftpflichtversicherung kann man nicht jenseits der Landesgrenze bestellen.
Auf der anderen Seite stehen alle Arbeitnehmenden und Selbständigerwerbenden, die von konjunkturellen Erschütterungen und der weltwirtschaftlichen Entwicklung unmittelbar betroffen sind. Für sie gibt es keine Garantien. Wie so vieles hat die Corona-Krise diese Klassengegensätze nicht geschaffen, aber schonungslos aufgedeckt. Hier die Angestellten des Staates und staatsnaher Betriebe, die den Lockdown bei vollem Lohn und gesichertem Arbeitsplatz aussitzen. Dort die Beschäftigten in der Gastronomie, im Einzelhandel, in der Eventbranche, die KMU-Unternehmer und Kulturschaffenden der freien Szene, deren Existenz in hohem Masse gefährdet ist.
Der Klassenkampf von heute entscheidet sich entlang der angeblichen Systemrelevanz der politischen Klasse und der angeblichen Nicht-Systemrelevanz der übrigen Bevölkerung. Auf die Serviceangestellte in der privaten Gastronomie kann die Gesellschaft offensichtlich verzichten, nicht aber auf den dritten Sachbearbeiter mit Bachelor-Abschluss im Amt für Gemeinden. Eine Grossbank, die sich verspekuliert, wird mit dem Geld der Steuerzahler und der Nationalbank gerettet. Die Barbetreiberin, die als Folge behördlicher Anordnungen keine Gäste mehr bedienen darf, geht pleite, ihre Mitarbeitenden stehen auf der Strasse. Fraglich ist, wie lange es uns noch gelingen wird, die mit diesen Klassengegensätzen verbundenen sozialen Verwerfungen über Sozialleistungen und Härtefallentschädigungen auszufinanzieren. Auch diese Zeitbombe tickt.
Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.
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