Wilde Spekulationen sind das täglich Brot von Boulevard-Medien. Wie «Blick» oder «Tages-Anzeiger». Aber nun auch die NZZ? Es geht um die Affäre Vincenz.
Es ist ein bedenklicher Artikel über den Fall Vincenz, der in den heiligen Hallen der Qualitätszeitung NZZ erschienen ist. Aufgrund von Informationen «einer mit den Umständen vertrauten Person» und abgestützt durch einen «renommierten Strafrechtsexperten», der aber leider auch nur anonym seine Weisheiten verzapft, tut die NZZ etwas, was man nicht tun sollte: haltlos spekulieren.
Denn die Autorin des Artikels stellt in den Raum, dass sich der gefallene Raiffeisen-Star Pierin Vincenz via Art. 53 des Strafgesetzbuches von der Anklage durch Wiedergutmachung freikaufen und so den Fall erledigen könnte.
Diese «Möglichkeit» eines Freikaufs werde wohl von den Verteidigern geprüft, orakeln die beiden Auskunftspersonen. Leider hat sich die Autorin hier anfüttern, manipulieren, instrumentalisieren lassen. Ein pfefferscharfer Vorwurf, der begründet werden muss.
Die Faktenlage ist dürr: Vincenz und andere werden von der Zürcher Staatsanwaltschaft der ungetreuen Geschäftsbesorgung beschuldigt. Auf Deutsch: Sie hätten absichtlich und unter Schädigung des Arbeitgebers in den eigenen Sack gewirtschaftet.
Vincenz und sein Kompagnon verbrachten einige Monate in Untersuchungshaft. Von beiden gibt es bis heute keine öffentliche Stellungnahme. Ausser der dürren Mitteilung von Vincenz, dass er unschuldig sei und sich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Anschuldigung wehre.
Dann weiss man noch, weil das die Staatsanwaltschaft wie schon zuvor Spesenabrechnungen an den «Tages-Anzeiger» durchstiess, dass alle bei den Hausdurchsuchungen Ende 2018 beschlagnahmten Unterlagen bis heute versiegelt sind. Das bedeutet, dass die Strafverfolgungsbehörden zwar in ihrem Besitz sind, aber nicht darauf zugreifen dürfen.
Dann gibt es noch die aus den USA importierte Methode des «trial by public opinion», also den Versuch, ein Urteil durch den Einsatz der öffentlichen Meinung zu beeinflussen. Das machen in der Schweiz Beschuldigte schon lange mithilfe von Beratern; inzwischen greift offenbar auch die Staatsanwaltschaft zu diesen Methoden.
Jetzt verlassen wir die Welt der Fakten und treten ins Zwielicht der Spekulationen, Vermutungen, Hinweise. Es ist richtig, dass das Strafgesetz einen Freikauf von Taten vorsieht. Aber: Das hätte zwei Vorausetzungen. Ein klares Schuldeingeständnis und einen Strafrahmen, der nur eine bedingte Strafe als wahrscheinlich erscheinen lässt.
Also hat diese Spekulation zur Voraussetzung, dass Vincenz von seiner einzigen öffentlichen Erklärung, dass er unschuldig sei, zurücktritt. Sie hätte weiter zur Voraussetzung, dass der mögliche Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Gefägnis, und das wäre jenseits einer bedingten Verurteilung, nicht ausgeschöpft würde.
Und es hätte letztlich zur Folge, dass die Öffentlichkeit nie erfahren würde, wessen sich Vincenz genau schuldig gemacht hätte. Es hätte, auch das ist ein Konjunktiv, aber keine Spekulation, auch zur Folge, dass sich die Frage einer Haftentschädigung erübrigen würde. Und dass der untersuchende Staatsanwalt immerhin eine dritte Klatsche vor Gericht vermieden hätte.
Aber dieser Konjunktiv beruht auf haltlosen Spekulationen, auf Humbug, wie das eine weitere Strafrechtskoryphäe mir gegenüber bezeichnete. Nein, sie will auch nicht namentlich genannt werden. Was Vincenz vorhat, das wissen nur er und sein Starverteidiger Lorenz Erni. Und beide sagen nix.
Da trösten wir doch den Leser noch mit einer lateinischen Sentenz, die den Traum jedes Staatsanwalts in Worte fast: confessio est regina probationum. Für nicht-Lateiner: Das Geständnis ist die Königin der Beweismittel.
Früher konnte das im Notfall mit der Eisernen Jungfrau, der Streckbank oder anderen Mitteln erreicht werden. Heute in der Schweiz verboten, aber das Anfüttern von Journalisten, der Versuch der Beeinflussung der öffentlichen Meinung, das ist erlaubt. Aber nicht unbedingt zielführend oder der Gerechtigkeit förderlich.
Womit einmal mehr nicht gesagt sein soll, dass Vincenz unschuldig sei. Aber dass bis zum Beweis des Gegenteils schon die Unschuldsvermutung gelten sollte. Theoretisch.
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