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Die Glosse

Waldmeyer und die Spieltheorie

Waldmeyer ist ein grosser Anhänger der Spieltheorie. Diese lässt sich hervorragend für eine anspruchsvolle Gesprächsführung verwenden, bei der man eigentlich nur gewinnen kann. In einer Verhandlung muss man nur den Lead bewahren. Aber manchmal funktioniert es eben nicht…

Roland V. Weber am 09. August 2024

Waldmeyer parkte seinen Porsche Cayenne (schwarz, innen auch) in der schlecht beleuchteten Parkgarage. Beim Aussteigen machte er sich an der hohen Türschwelle seine schwarzen Jeans schmutzig. Aber Camenzind würde das wohl nicht beachten, überlegte Waldmeyer, als er die Treppe hochstieg und die uringeschwängerte Luft hinter sich liess.

Waldmeyer stapfte die Bahnhofstrasse runter und bereitete sich auf das Gespräch mit Camenzind vor. Er trug keine Mappe, denn das sieht heute, in der digitalen Welt, etwas affig aus, auch keinen Rucksack, denn das würde ein zu non-komformistisches Zeichen aussenden. Er hatte nur sein Mobiltelefon dabei, da liess sich unter der gelben App «Notizen» alles wunderbar notieren. Die Unterlagen hatte Waldmeyer vor drei Stunden bereits an Camenzind per E-Mail geschickt, nicht gestern, sondern bewusst erst heute Morgen früh, sodass genügend, aber nicht zu viel Zeit zum Studium verblieb. Alle Dokumente schlummerten also bereits in Camenzinds Laptop. Ja, so sieht heute die digitale Welt aus, möglichst papierlos.

Für den Notfall hatte Waldmeyer noch sein kleines schwarzes Notizbuch dabei. Etwas ganz Wichtiges würde er dann nicht im Handy eintippen, sondern, mit einer verhaltenen Theatralik, in dieses Notizbuch schreiben.

Camenzind musste heute zu diesem Projekt zusagen. Musste. Waldmeyer ist, wie eingangs bemerkt, ein grosser Anhänger der Spieltheorie. Die Spieltheorie ist bekanntlich eine «mathematische Theorie, in der Entscheidungssituationen modelliert werden, in denen mehrere Beteiligte miteinander interagieren». Die Spieltheorie kann sehr gut auch für Verhandlungen und Gesprächsführungen verwendet werden. Man muss sich ein Schachspiel vorstellen, bei dem eine ganze Anzahl Züge im Voraus angedacht werden. Waldmeyer würde den Gesprächsfaden also so spinnen, dass Camenzind am Schluss gar nicht anders könnte, als zuzusagen. Jede Gesprächs-Abzweigung hatte Waldmeyer vorbereitet, immer mit mehreren Argumentationsschritten und Varianten, Reaktionen und Konterreaktion. Alles vorausgedacht, mit einem roten Faden, dem Camenzind (unbemerkt) folgen würde, stringent auf die Konklusion zusteuernd – eben die unweigerliche Projektzusage.

Plötzlich erschrak Waldmeyer: Er hatte keinen Stift dabei! Früher, als man auch im Hochsommer noch einen Veston trug, war immer alles dabei, damals auch ein Montblanc-Füller. Der Montblanc-Füller geht aber heute nicht mehr, zu auffällig, fast affektiert. Den besitzen heute nur noch Devisenhändler, die aber gar nichts notieren oder unterschreiben müssen. Ein unauffälliger Kugelschreiber reicht heute, denn dieser lenkt nicht ab von der Gesprächsführung.

Waldmeyer musste nun einen Management-Entscheid fällen: Zurück in die Parkgarage zu seinem inzwischen wohl urin-kontaminierten Fahrzeug und dort einen Kuli holen, oder jetzt, unterwegs, sich ein Schreibgerät beschaffen? Er entschied sich für letzteres.

Wahrscheinlich gibt es heute, so vermutete Waldmeyer, überhaupt keine Schreibwarenläden mehr. Oder ein verwandtes Retailkonzept, welches irgendwelche Schreibwaren anbietet. Er schielte bei Ledergerber kurz rein, ob es dort an der Kasse etwas zum Schreiben gibt. Nichts. Auch beim Traiteur nicht. Waldmeyer entschied sich, beim Hotel la Couronne, am Ende der Strasse, kurz bei der Rezeption reinzuschauen, um sich dort eine Dauer-Leihgabe zu verschaffen. Auch hier könnte die Spieltheorie weiterhelfen, also bereitete sich Waldmeyer auf eine geschickte Gesprächsabfolge vor. Rezeptionistinnen sind oft hübsch, oft jung, oft weltläufig, oft ausländisch, oft auch sehr sprachbegabt, oft sehr hilfreich und lösungsorientiert. Er würde ein beiläufiges, sympathisches Gespräch führen, mit dem finalen Ausgang, etwas notieren zu müssen, sich dann einen dieser Stifte schnappen, die immer griffbereit auf dem Counter liegen und diesen dann, ebenso beiläufig, zusammen mit der Notiz einstecken. Mission accomplished. Waldmeyer schlenderte also zufrieden Richtung Couronne. Im Schaufenster bei Arbenz Schreibwaren spiegelte sich sein Gesicht und er schenkte sich ein verhaltenes Lächeln. Ja, Spieltheorien sind wirklich praktisch. Diese vorbehaltenen Entschlüsse, die elegante Gesprächsführung, das Vermeiden von Überraschungen, die Konklusion…

Als er die Lobby des Hotels betrat, konstatierte Waldmeyer bereits, dass das Gespräch vielleicht anders verlaufen könnte. Aber deshalb gibt es ja die Spieltheorie, die nimmt die nötigen Reaktionen, mit vielen Schritten im Voraus, vorweg. Die ältere Dame lächelte und legte damit ihre etwas unvorteilhafte Zahnstellung frei. «Helen Bischofberger» stand auf ihrem Namensschild, auf zwei Zeilen, vermutlich, weil der Name sonst zu lang gewesen wäre oder in zu kleiner Schrift, womit man der Rezeptionistin dann zu lange auf die Brust starren würde, um den Namen zu entziffern – etwas, das es zu verhindern gilt. Waldmeyer fragte, wie von ihm sauber mental vorbereitet, nach der Verfügbarkeit von zwei Zimmern plus Besprechungsraum, für Sonntagabend. Er hatte Sonntag gewählt, weil ein Sonntag die höchste Wahrscheinlichkeit bietet, über freie Kapazitäten zu verfügen - was den Gesprächsfluss nicht behindern würde („alles ausgebucht“ wäre nicht ideal, denn dann gäbe es nichts zu notieren). Waldmeyer schielte auf den schwarzen Becher mit den schwarzen Bleistiften mit dem Hotellogo und wollte gleich seinen Satz formulieren, der ihn zu einer Notiz veranlassen würde. «Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Besprechungsräume!», kam Frau Bischofberger dazwischen.

In der Folge schaute sich Waldmeyer alle Besprechungsräume an, dann die Zimmer, wo er auf den Nachttischen die gleichen schönen schwarzen Stifte entdeckte, aber keine Chance für eine unbemerkte Aneignung erkannte, dann das Gym, den Spa (Schuhe kurz ausziehen), die Bar, die Terrasse. Zurück an der Rezeption dann endlich die Chance: Frau Bischofberger, vermutlich nicht sehr digital, fand in den Niederungen ihres PCs endlich die Zimmerpreise. Waldmeyer schnappte sich eine der schwarzen Visitenkarten des Hotels und supponierte die Suche nach seinem Stift, Frau Bischofberger schickte ihm lächelnd ihre Zahnstellung entgegen, plus ihren orangen Kuli. «Danke, ich schreibe lieber mit Bleistift», entgegnete Waldmeyer souverän und angelte sich einen schwarzen Bleistift aus dem Becher. Während Frau Bischofberger ein Telefongespräch entgegennahm, fingierte Waldmeyer eine unleserliche Notiz mit dem Bleistift auf der schwarzen Visitenkarte. Als die Zahnstellung etwas unkonzentriert wirkte, steckte er den Bleistift wieder zurück, behielt ihn aber beim raschen Rückzug aus dem Becher in der Hand und liess ihn im Hemdsärmel verschwinden. Mission accomplished.

«Sorry, der Verkehr», meldete Waldmeyer bei Camenzind, als er verspätet eintraf. «Ich weiss, es wird immer schlimmer», entgegnete Camenzind vielsagend. Scheisse, dachte Waldmeyer, das war falsch, jetzt hat der Camenzind die Gesprächshoheit. Waldmeyer versuchte, den Lead zurückzugewinnen. Sämtliche Gesprächsabzweigungen schlugen indessen fehl. Zu allem Übel hatte Camenzind die 80 Seiten Dokumentation ausgedruckt vor sich, mit einem roten Stift bereits bearbeitet und strotzte vor Selbstsicherheit. Waldmeyer vermied zumindest einen Fehler: Er zeigte seinen Bleistift nicht. Plötzlich wurde ihm nämlich klar, dass dieser Stift mit dem Logo ein falsches Signal aussenden könnte: Stiehlt Waldmeyer? Wieso übernachtet Waldmeyer im La Couronne? Und so weiter. Aber alles half nichts. Kurzum, Camenzind entschied, heute nicht zu entscheiden.

«Wie lief es bei Camenzind», fragte Charlotte, als Waldmeyer schlecht gelaunt zu Hause eintraf. «Nicht gut. Dieser Seckel verwendet die Spieltheorie, ziemlich gemein!», antwortete Waldmeyer. «Wieso warst du eigentlich im La Couronne? Brigitte meinte, sie hätte dich dort rein- und rausgehen sehen, insgesamt mindestens 40 Minuten.»

Auch das noch, dachte Waldmeyer. «Ich kann dir alles erklären, Charlotte!»

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Autor/in
Roland V. Weber

Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.

Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.

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