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Asylpolitik

SVP attackiert Bundesrat Jans, Staatssekretariat für Migration kontert mit einem «Faktencheck in 18 Punkten». Wer hat recht?

Eine Auswertung des neuesten Positionspapiers der Partei zur Asylpolitik und der Antwort des Staatssekretariats für Migration zeigt: Die SVP irrt in drei von neun Fällen, das SEM hingegen wirft der Partei in mindestens zwei Fällen zu Unrecht eine Falschaussage vor.

Thomas Baumann am 09. August 2024

Die SVP schreibt in ihrem neuesten Positionspapier zur Zahl der Asylgesuche, dass es 2024 «um die 40'000 Gesuche» sein werden. Das Staatssekretariat für Migration hält dagegen: «Das SEM hat immer kommuniziert, dass es bis Ende 2024 mit rund 30'000 Asylgesuchen rechnet. […] Die Schweiz verzeichnete bis Ende Juni 14'121 Asylgesuche».

Das ist natürlich famos, dass ein Amt so klar kommuniziert. Fragt sich nur, ob sich auch die Realität an die behördliche Vorgabe hält.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt jedenfalls: In der zweiten Jahreshälfte liegt die Zahl der Asylgesuche jeweils deutlich höher als in der ersten Jahreshälfte. In den Jahren 2021-2023 waren es im Durchschnitt 63 Prozent mehr (2021: +56%, 2022: +87%, 2023: +48%). Damit wären, hochgerechnet von den 14'121 Asylgesuchen im Zeitraum Januar bis Juni, für das Gesamtjahr 2024 etwas mehr als 37'000 Asylgesuche zu erwarten.

Selbst wenn man wegen der Auswirkungen der Corona-Pandemie nur auf das Jahr 2023 abstellen würde, läge die Zahl der hochgerechneten Asylgesuche immer noch näher bei 40'000 als bei 30'000.

Die Schätzung lässt sich auch anders vornehmen: 2023 wurden gemäss der «Asylstatistik 2023» 30'223 Asylgesuche gestellt. Im ersten Halbjahr 2024 lag die Zahl gegenüber dem ersten Halbjahr 2023 um 48 Prozent höher. Dies legt den Schluss nahe, dass auch im Gesamtjahr 2024 deutlich mehr Asylgesuche zu erwarten sind als 2023. Fazit: 1:0 für die SVP.

Stärkere Zunahme in Europa

«Die Schweiz verzeichnet eine stetige Zunahme von Asylgesuchen, deutlich stärker als andere europäische Länder» schreibt die SVP. Auch das stimme nicht, meint das SEM. Seine Begründung: «Der Anteil der Schweiz an den neuen Asylgesuchen in Europa liegt bei rund 2,7 Prozent. Das ist der tiefste Wert seit 2019 (2012: 8%).»

In der «Asylstatistik 2023» lesen wir: «Der Anteil der Schweiz an allen in Europa gestellten Asylgesuchen lag 2023 bei rund 2,4%, 0,1% höher als 2023 [sic!]. Seit 2016 bewegt sich dieser Anteil zwischen 2,0 und 2,4%.»

«2023 […] 0,1% höher als 2023»: Gegenlesen vor der Publikation scheint keine Kernkompetenz des Amts zu sein. Doch davon abgesehen zeigt sich tatsächlich keine «deutlich stärkere» Zunahme der Asylgesuche in der Schweiz als im übrigen Europa. Ein Punkt für das SEM — könnte man meinen.

Doch auch hier zeigt sich die mangelnde Lesekompetenz im Amt: Denn die SVP schrieb ja nicht von «Europa», sondern nur von «anderen europäischen Ländern» — also nicht allen. Es genügt somit, dass die SVP zwei Länder in Europa benennen kann, bei denen ihre These tatsächlich zutrifft.

Nimmt man beispielsweise die Zahlen 2010-2023 und 2013-2023, dann zeigt sich, dass sowohl Dänemark wie Schweden in beiden Zeiträumen einen Rückgang der Asylanträge verzeichneten. Zwischen 2010 und 2023 stieg die Zahl der neu eingereichten Asylanträge in Belgien um 12%, in Polen um 18% und in Finnland um 44%, in der Schweiz jedoch um 94%.

Zwar ist die Stossrichtung des SEM korrekt: In Europa insgesamt stieg die Zahl der Asylgesuche langfristig stärker als in der Schweiz. In Spanien beispielsweise je nach Betrachtungszeitraum gar um einen Faktor 36 bis 59 (2010: 2740, 2023: 160'460 Asylanträge)!

Dennoch ist die Aussage der SVP eben nicht «falsch», weil sie sich ja nicht auf Gesamteuropa bezieht. 2:0 für die SVP.

Rückläufige Aufgriffe Illegaler

Selbstverständlich beklagt sich die SVP auch über die «illegale Einwanderung»: «Die Aufgriffe illegal Anwesender oder illegal Eingereister nehmen zu, und viele bleiben unentdeckt in der Schweiz.» Das SEM kontert: «Die Zahl der Aufgriffe illegal anwesender Personen ist deutlich rückläufig: Gemäss Monatszahlen BAZG: Januar bis Juni 2024: 12'586; Januar bis Juni 2023: 17'795.»

Zahlen des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit BAZG zeigen: Im Vergleich zum Vorjahr haben die Aufgriffe tatsächlich abgenommen, im Vergleich zu 2021 jedoch zugenommen. 2022 und 2023 lagen die Aufgriffe jeweils fast dreimal so hoch wie 2021. Fazit: Trotz Grammatikschlendrian des Amts (drei Doppelpunkte in einem Satz!) unentschieden, es steht weiterhin 2:0 für die SVP.

Weiter kritisiert die SVP: «Die Rückführung von Asylbewerbern in ihre Erstaufnahmeländer gemäss Dublin-Abkommen funktioniert nicht effektiv, teils gar nicht.» Das SEM meint dazu: «Die Schweiz hat insgesamt 2021 Personen im Rahmen des Dublin-Systems in andere europäische Staaten überstellt, während sie 694 Personen aufgenommen hat. Die Schweiz profitiert weiterhin stark.»

Nun, die SVP hat ja nicht in Abrede gestellt, dass die Schweiz davon profitiert, sondern das Funktionieren bemängelt. Zudem nimmt Italien gar keine Asylbewerber mehr zurück. Weil man trefflich darüber streiten kann, was ein «effektives» Funktionieren ist, resultiert auch hier trotz des Rücknahmestopps von Italien ein (für das SEM eher schmeichelhaftes) Remis.

24-Stunden-Verfahren dauert 12 Tage

Die SVP bemängelt, dass das neue 24-Stunden-Verfahren in Tat und Wahrheit «mindestens einen Monat» dauere. Das SEM meint: «Falsch, das durchschnittliche Verfahren [dauerte] 12 Tage.» Punkt für das SEM, damit steht es noch 2:1 für die SVP.

Auch mit den abgewiesenen Asylbewerbern beschäftigt sich die SVP: «Im Dunkeln bleibt auch, was mit den vielen abgewiesenen Asylbewerbern passiert. Sie bleiben entweder illegal im Land, tauchen unter oder reisen unentdeckt weiter.»

Das SEM kontert: «Das SEM hat in den letzten Jahren konstant rund 55 Prozent der Wegweisungen im Asyl- und Ausländerbereich vollzogen.» Weil das SEM kein Wort zu den übrigen 45 Prozent verliert und sich die Aussage der SVP möglicherweise rein auf Nordafrikaner bezog, auch hier ein (diesmal für die SVP eher schmeichelhaftes) Unentschieden.

Die Praxisänderung des SEM, welche Frauen aus Afghanistan quasi automatisch die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt, ist der SVP ebenfalls ein Dorn im Auge: «Vor der Praxisänderung betrug die Asylgewährungsquote von Afghaninnen rund 36%. Inzwischen beträgt sie 98%.»

Das SEM meint dazu: Von Juni 2023 bis Juni 2024 erhielten 75% Asyl, 11% eine vorläufige Aufnahme. Im Juni 2024 betrugen die entsprechenden Zahlen 85%, respektive 10%. In den übrigen Fällen gab es ein Nichteintreten. Gut möglich allerdings. dass diese Frauen mit vervollständigten Papieren später ein neues erfolgreiches Gesuch stellten.

Nichtsdestotrotz: Die SVP hat zwar in der Stossrichtung unbestrittenermassen recht, aber die Zahlen sind trotzdem nicht korrekt. Punkt für das SEM, damit steht es 2:2.

Dürftige Bilanz für das SEM

Dasselbe Verdikt auch bei den von der Partei behaupteten «zusätzlichen rund 4500 Asylgesuchen von Afghaninnen». Die Zahl von rund 4500 Asylgesuchen umfasst in Tat und Wahrheit Männer und Frauen, wie das SEM schreibt. 3:2 für das SEM.

Durch eine Änderung der Asylverordnung hätte sich der Bund ein Schlupfloch geschaffen, um aufgrund der zu erwartenden Änderung des Aufenthaltsstatus afghanischer Frauen (von vorläufiger Aufnahme zu anerkanntem Flüchtling) nicht für Mehrkosten der Sozialhilfe aufkommen zu müssen, kritisiert die SVP.

Das SEM weist den Vorwurf zurück, geht aber nicht auf die angebliche

Änderung der Verordnung ein. Remis in dieser Frage mangels nachvollziehbarer Argumente des SEM.

Bei den übrigen «Faktenchecks» qualifiziert das SEM die Aussagen im SVP-Positionspapier nicht explizit als falsch. Eine Überprüfung kann daher unterbleiben.

In der Summe steht es somit 3:2 für das Staatssekretariat für Migration. Während die SVP vor allem bei dem Details schnitzert, dürfte das SEM mit seiner Global-Prognose noch unsanft auf dem Boden der Realität landen.

Man könnte es auch so formulieren: Nur in einem Drittel der Fälle, in denen das SEM der SVP Falschinformationen vorwirft, ist der Vorwurf unbestrittenermassen berechtigt. In zwei Fällen wirft das Amt der SVP hingegen eindeutig zu Unrecht eine Falschaussage vor.

Auch wenn die SVP etwas öfter irrt als das SEM: Für ein Staatssekretariats ist ein solches Ergebnis mehr als dürftig. Vor allem, wenn es seine Stellungnahme vollmundig als «Faktencheck» anpreist.

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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