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Chronologie einer virtuellen Jagd

Wie aus Fussnägeln eine Geschichte voller Hass und Hetze wurde

M.S. hat sich die falschen Leute zu Feinden gemacht. Solche, die sich dem Kampf gegen Hetze im Internet zur Mission gemacht haben. Aber um M.S. zu bekämpfen, greifen einige von ihnen offenbar selbst genau zu diesem Mittel. Eine ziemlich irre Geschichte mit der Frage: Können aus Opfern Täter werden?

Stefan Millius am 27. Mai 2021

«NetzCourage ist ein gemeinnütziger Verein, der sich dezidiert und aktiv gegen Hassrede, Diskriminierung und Rassismus im Internet stellt. Wir verstehen uns als Instrument der Aufklärung und kämpfen für Anstand und einen menschenwürdigen gegenseitigen Umgang von Nutzern*innen Sozialer Medien wie Facebook und Twitter.»

So stellt sich der Verein Netzcourage auf seiner Webseite vor. Gründerin und Geschäftsführerin ist Jolanda Spiess-Hegglin. Sie hat ihre persönliche Vorgeschichte, die hinlänglich bekannt ist, damit gewissermassen zur Lebensaufgabe gemacht. Zusammen mit anderen Aktiven im Verein jagt sie Leute, die im Netz mit diskriminierenden oder rassistischen Äusserungen unterwegs sind. Diese werden nicht selten mit einer Strafanzeige beglückt. Auf diese Weise will Netzcourage für ein «sauberes» Internet sorgen.

Die Idee kommt gut an. Jüngst hat der Verein Netzcourage beziehungsweise Gründerin Jolanda Spiess-Hegglin eine Auszeichnung der Somazzi-Stiftung erhalten, die Frauen oder Frauenorganisationen würdigt. Und ebenfalls erst gerade hat das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann bekanntgegeben, man werde das Projekt «NetzAmbulanz» des Vereins mit einer «Finanzhilfe» unterstützen. Ein ziemlich offizieller Adelsschlag aus der Bundesverwaltung.

Es gibt aber einen Mann, der das für einen Affront hält. Weil sich das Lob für den Verein nicht deckt mit den Erfahrungen, die er selbst gemacht hat. Es geht um M.S., dessen voller Name der Redaktion bekannt ist, der aber nicht damit oder mit seinem Gesicht in Erscheinung treten will, weil er Angst habe vor weiteren «negativen Auswirkungen».

M.S. sagt aufgrund seines eigenen Beispiels – und das reichhaltig dokumentiert –, dass aus dem Umfeld von Netzcourage gegen missliebige Personen exakt die Techniken angewendet werden, die der Verein gemäss Eigendarstellung eliminieren will: Hassrede, Verleumdung, Mobbing.

Der Mann ist Betreiber einer Praxis rund um Fussnagelprobleme im Kanton Zürich. Das Facebookprofil von M.S. zeigt: Er tickt – offenbar ohne Parteizugehörigkeit – tendenziell eher rechts der Mitte, er lobt beispielsweise einen Beitrag von Andreas Glarner oder würdigt Gölä. Nichts von dem, was er schreibt, sieht nach Straffälligkeit aus, es ist schlicht und einfach seine Haltung und damit Geschmacksache. Wobei offenbar bereits versucht wurde, ihm juristisch etwas anzuhängen. Es habe schon früher Einstellungs- und Nichtanhandnahmeverfügungen zu seinen Gunsten gegeben, sagt M.S., er habe sich aber «immer korrekt verhalten und wurde noch nie verurteilt.»

Der anderen Seite billigt er allerdings kein korrektes Verhalten zu. So schwer – und wenig ratsam – es ist, konkrete Anschuldigungen auszusprechen, Tatsache ist: Seit der Mann, der sich beruflich um Fussnägel kümmert, in den Fokus von Netzcourage geraten ist, womit auch immer, ist sein Leben nicht mehr dasselbe. Er sieht sich laufend Anfeindungen im Internet ausgesetzt. Allerdings nicht mit vereinzelten bösartigen Beiträgen, sondern einem regelrechten System.

So gab es plötzlich Dutzende von «Kopien» der Facebookseite seiner Praxis. Die trugen Titel, in denen die Domain seiner Webseite ergänzt worden war mit wenig freundlichen Bezeichnungen. Beispielsweise dieser: «Vorsicht, aggressiver judenfeindlicher Quacksalber». Das ist nicht nur unangenehm, es wäre mit Sicherheit auch ein Fall für die Justiz. Die Webadresse einer Firma mit dem Zusatz «judenfeindlicher Quacksalber» zu versehen, ist geschäftsschädigend und persönlichkeitsverletzend.

Netzcourage

Eine von laut M.S. bisher insgesamt 62 Fakeseiten über seine Praxis.

Wer die Seiten bei Facebook aufgesetzt hat, lässt sich kaum herausfinden. Vor allem, weil sie regelmässig wieder verschwinden oder durch neue ersetzt werden. Auf jeden Fall steckte er oder sie einige Energie in die «Arbeit». Die gefälschten Seiten wurden aktiv betreut, mit allen möglichen Mitteln und oft ziemlich gesuchten «Zusammenhängen» wurde versucht, M.S. in der Nähe von Rechtsextremen zu positionieren. Auf welcher Grundlage, das bleibt offen. Doch in der Konsequenz ist es bedeutungslos. Heute reicht schon das reine Gerücht.

Netzcourage

Liebevoll und mit einiger Arbeit verbunden: M.S. wurde auf den gefälschten Seiten aktiv «verfolgt».

Doch auch wenn die Ursprünge im Dunkeln bleiben, das Web verrät vieles. Öffentlich ersichtlich war beispielsweise jeweils, wem die entsprechende Seite gefällt, wer also eine Art passive Unterstützung signalisiert. M.S. hat davon fleissig Screenshots produziert. Ein «Like» erhielt eine der Fakeseiten unter anderem von einer Netzcourage-Aktivistin. Eine Aufnahme des Profils der entsprechenden Person bestätigt, dass sie den Vorwurf der Judenfeindlichkeit mit einem Daumen nach oben feierte. Es gibt zahlreiche weitere Screenshots, die belegen, dass sie nicht die einzige Person aus dem Umfeld von Netzcourage ist, die sich hinter eine gefälschte Seite gestellt hat, auf der ein Praxisbetreiber – wohl strafrechtlich relevant – verunglimpft wird.

Man mag zu M.S. und seiner politischen Haltung stehen, wie man will: Einen «menschenwürdigen gegenseitigen Umgang» im Internet stellen gefälschte Facebookseiten mit schwersten Vorwürfen kaum dar. Warum klickt jemand, der sich angeblich für diesen Umgang stark machen will, auf «Gefällt mir» auf einer solchen Seite?

Dass M.S. sich die Belege sicherte, ist im Nachhinein sinnvoll, weil die Fälschungen oft nicht langlebiger Natur waren. Wer auch immer sie anfertigt, er oder sie mag nicht Gefahr laufen, auffindbar zu sein. Und M.S. versteht die Welt nicht mehr: «Von Mitarbeiterinnen von Netzcourage darf man auch erwarten, dass man auf Täter Einfluss nimmt und nicht zuschaut, wie er eine Straftat begeht. Der Verein hilft ja Opfern, also eventuell mir, und nicht Tätern, das wäre professionell gemäss ihrer eigenen Webseite.»

Netzcourage

«Gefällt mir»-Angaben einer Netzcourage-Aktivistin: Es gab sie für die Seite von Tamara Funiciello, eine deutsche Anarchistenseite und die Fakeseite  gegen M.S.

Eine ziemlich absurde Situation: Jemand, der sich dem Kampf gegen Hass und Mobbing im Internet verschrieben hat, unterstützt die aktive virtuelle Demontage einer anderen Person, und sei es auch nur mit einem «Gefällt mir». Feuer soll gewissermassen mit Feuer bekämpft werden. Wobei nicht mehr nachzuvollziehen ist, wo M.S. einst Feuer gelegt haben soll. Es scheint, dass seine innere Nähe zur SVP, die er auch einräumt – die aber immer noch eine erlaubte demokratische Partei ist – bereits ausreicht, um ihm das Leben schwer zu machen.

Das deckt sich mit Erfahrungen anderer. Netzcourage stellt offiziell die selbst deklarierte Mission ins Zentrum und behauptet, politisch unabhängig zu sein und Hass und Diskriminierung ohne Bewertung der Ideologie zu verfolgen. Wer das Netzwerk der Leute anschaut, die für den Verein aktiv sind oder ihm nahe stehen, sieht aber schnell, dass es sie vor allem in eine Richtung zieht: Sehr weit nach links. Netzcourage scheint durch Querverstrebungen der jeweiligen Unterstützer Teil eines inoffiziellen Netzwerks zu sein, das vorwiegend gegen rechts austeilt. Dazu passt, dass eine SVP-Politikerin einst bei Netzcourage um Hilfe bat, aber abblitzte. Was aber nichts mit der Parteizugehörigkeit zu tun gehabt habe, wie Jolanda Spiess-Hegglin damals sagte. Das kann stimmen oder auch nicht.

Selbst wenn Netzcourage als Verein keine offizielle Schlagseite hat, viele Mitglieder haben sie. Und einige davon gehen dabei ziemlich bedenkenlos vor, wie der Fall von M.S. zeigt. Das scheint kein Thema zu sein bei der Gleichberechtigungsstelle des Bundes oder einer Stiftung, die Frauen auszeichnet. Wobei sie sich vermutlich ohnehin auf den Standpunkt stellen würden: Was einzelne Vereinsmitglieder tun, dafür kann man nicht den Verein abstrafen.

Was natürlich stimmt. Nur: Umgekehrt sieht es anders aus: Aus Sicht von Netzcourage ist oft schon ein «Gefällt mir» oder ein Retweet eines aus ihrer Sicht diskriminierenden oder rassistischen Beitrags genug, um als Person auf den Radar zu gelangen. Gleiches Recht für alle: Es muss möglich sein, den Verein in die Mitverantwortung zu nehmen, wenn einzelne Exponenten genau das tun, was sie angeblich bekämpfen wollen.

Angesichts der Mission, die der Verein verfolgt, müsste gegen innen eine Null-Toleranz-Politik herrschen. Sprich: Wer einen anderen im Web fertig macht, völlig egal, wie die Vorgeschichte aussieht, sollte disqualifiziert sein bei Netcourage. Das ist eine Frage des Prinzips – und der Glaubwürdigkeit.

Aber wie so oft geht es vermutlich nicht darum, was jemand tut, sondern wer es tut. M.S. ist der «Gegner», und da ist wohl alles erlaubt.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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