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Der ÖV in der Stadt und in der Ostschweiz

«Der öffentliche Verkehr ist nicht nur etwas für Grüne»

In der Stadt St.Gallen ist ein Verkehrsstreit entbrannt. Wegen der Sanierung der Autobahn wird befürchtet, dass nun der Autoverkehr stärker auf das städtische Netz ausweicht. Mehr öffentlicher Verkehr soll es deshalb richten. Doch die Entwicklung läuft in die Gegenrichtung.

Stefan Millius am 11. Juli 2019

Ausgerechnet die Fehlentwicklung beim öffentlichen Verkehr zwinge immer mehr St.Galler dazu, aufs Auto auszuweichen, behauptet der St.Galler Standortberater Remo Daguati. Er entwickelt schweizweit Entwicklungsgebiete für Innovationen, Arbeitsplätze und Wohnen und kennt die Regionen im Vergleich. Im Interview mit Daguati über die Lücken im St.Galler ÖV - und wie sie mit den Strassenaktivitäten zusammenhängen.

Remo Daguati, Sie nutzen für ihre Einsätze bei Beratungsmandaten meist die Bahn. Und Sie sind, das kann man auf allen Kanälen nachlesen, nicht unbedingt glücklich. Wie beurteilen Sie das St.Galler öV-Angebot generell?

Der öffentliche Verkehr in der Stadt St.Gallen ist zum Haare raufen. Wer nicht in Fussdistanz zum Hauptbahnhof St.Gallen wohnt und so von beschleunigten Fernverkehrsverbindungen profitiert, wird der fehlenden Abstimmung von Fernverkehr, S-Bahn- und Busanbindungen ausgesetzt. Seit der Ausdünnung der S-Bahn beim Fahrplanwechsel 2019 gelingt der Anschluss an den Fernverkehr ausserhalb der Stosszeiten nur noch über zeitraubende Umwege via Hauptbahnhof. Geschäftliche Termine in Zürich, Bern, Basel oder Luzern erreicht nur, wer mit dem Auto nach Gossau fährt und dort beim Park-and-Ride auf den Fernverkehr umsteigt. In den Abendstunden erfährt man dann die gleiche öV-Folter nochmals. Man strandet am Hauptbahnhof mit langen Warte- und Umsteigezeiten ohne brauchbare Anschlüsse in die Stadtquartiere. Die Fahrzeiten nach Zürich im Fernverkehr sind wenigstens etwas besser als noch in den 70er-Jahren, aber das ist ja auch schon ein Zeitchen her. Wer kann, fährt Auto.

Die Stadt hat sich ja einer Verlagerungspolitik verschrieben. Sie will das Mobilitätswachstum nur noch über den öV und Langsamverkehr absorbieren. Geht diese Politik aus Ihrer Sicht auf?

Die Stadt versucht seit Jahren den öV zu stärken, und das mit einem sturen, wirkungsfreien Rezept. Sie schafft immer neue und noch längere Buslinien. Der Talboden ist mittlerweile mit derart vielen Buslinien zugepfercht, dass man bereits ein 100 Mio. Franken Busdepot plant, um all die Fahrzeuge zu warten. Der Stadtrat hätte als Eigner der VBSG grossen Einfluss darauf, dass man in der Region St.Gallen die begrenzten Mittel für den öffentlichen Verkehr nicht in immer neue Buslinien investiert. Nötig wäre ein Entschlacken der VBSG zur Stärkung der schnellen und mit dem Fernverkehr abgestimmten S-Bahnen, über welche die Personenströme zügig zwischen den Stadtteilen verkehren könnten. Die VBSG müsste man also redimensionieren und mit einem neuen Auftrag versehen.

Sie fordern also einen Abbau beim öffentlichen Verkehr in der Stadt St.Gallen?

Im Gegenteil. Das S-Bahn-System muss aggressiv und zügig optimiert werden, da liegen ja die bestehenden Infrastrukturen völlig brach. Die VBSG könnte dafür bei der letzten Meile von den S-Bahn-Knoten aus als starker, wirksamer Zubringer in die Quartiere wirken. Dies würde auch kritische, bürgerliche Stimmen im Kantonsrat versöhnen, denen das Kostenwachstum der Stadt beim öffentlichen Verkehr ein Dorn im Auge ist. Doch vom cleveren Umbau des öffentlichen Verkehrs will man in der Stadt nichts wissen. Stattdessen flutet man das Busnetz mit immer neuen Investitionen in Fahrzeuge, Trolley-Fahrleitungen und Bushaltestellen. Und die Kosten steigen weiter, ohne dass wirklich ein massgeblicher Umsteigeeffekt erreicht wird.

Das heisst mit anderen Worten: Aus Ihrer Sicht werden in der Stadt St.Gallen in der Verkehrspolitik die Prioritäten falsch gesetzt?

Ja, die Prioritäten sind aus Ideologie fehlgeleitet. Anstatt beim öV die Hausaufgaben zu machen, werden die Kräfte in der Stadt St.Gallen lieber dazu verwendet, den motorisierten Autoverkehr abzuwürgen. Der Stadtrat hat ja die Umerziehung seiner Bevölkerung erklärt. Etwas überspitzt formuliert: Mit der städtischen Politik, oberirdische Parkplätze zu Tauben-Reservaten einer sterbenden Innenstadt umzugestalten, Bushaltebuchten auf die Fahrbahn zu verlegen, 30er-Zonen auf Einfallstrasse zu prüfen und mit Bus-Konvois im Talboden wertvolle Strassenkapazitäten zu blockieren, wurde die Erreichbarkeit der Stadt in den letzten Jahren über die Strasse systematisch reduziert. Das Dumme nur: Busse stecken wie die Autos im Stau. Es rächt sich, dass keinerlei Anstrengungen unternommen wurden, die fehlende Abstimmung zwischen Fernverkehr, S-Bahn und Busanbindungen anzugehen. Auch wurde es versäumt, die Infrastruktur bei den städtischen S-Bahnhöfen zu erhalten und so ein attraktives Netz beim öffentlichen Verkehr anzubieten.

Sie plädieren für einen Ausbau des öV. Soll also auf den Strassenbau verzichtet werden?

Gott bewahre, nein! St.Gallen kann es sich schlicht nicht leisten, die Strasse zu vernachlässigen. Denn St.Gallen bleibt auf die Erreichbarkeit mit dem Auto angewiesen wie kaum eine andere Stadt in unserem Land. Im Umkreis von 15 Minuten Fahrzeit mit dem öffentlichen Verkehr kann man von der Stadt St. Gallen rund 100'000 Personen erreichen. Mit dem motorisierten Individualverkehr vergrössert sich diese bevölkerungsmässige Erreichbarkeit in derselben Zeit markant auf über 180'000 Personen. Eine derart hohe Hebelwirkung weisen andere Deutschschweizer Städte nicht auf. Darum ist es auch elementar, dass die Stadtautobahn saniert und der neue Zubringer zur A1 gebaut werden kann.

Dagegen gibt es aber, wie wir wissen, auch einigen geballten Widerstand.

Falls auch die Linke diesen Zusammenhang besser versteht, würde sie wohl weniger gegen die Strasse wettern. Aber gerade solche Forderungen würden die Erreichbarkeit von St.Gallen zusätzlich abschnüren und die Wirtschafts- und Wohnentwicklung hemmen. Weitere, umfassendere Sparpakete wären programmiert. Bevor überhaupt ein attraktives Angebot geschaffen ist, dass zum Umsteigen auf den öffentlichen Verkehr motiviert, muss man zur Strasse Sorge tragen. Ein grosser Teil der St.Galler Mobilität wird weiterhin über die Strasse abgewickelt werden müssen. Denn der Kanton plant erst auf 2035/2040, beim öV endlich seine Hausaufgaben zu machen. Aus meiner Sicht ist das viel zu spät.

Wir haben nun viel über die Stadt diskutiert. Wie beurteilen Sie die Lage darüber hinaus, in der Ostschweiz?

Was in der Stadt St.Gallen beim öV abgeht, kann man auch auf weitere St.Galler Gemeinden und Städte anwenden. Nervös machen würde mich aus St.Galler Optik der Blick auf die nationale Landkarte: Luzern und Basel erhalten Durchgangsbahnhöfe, Städte und Gemeinden entlang der Neat-Linien katapultieren mit neuen Bahn- und Busbahnhöfen und zusätzlichen S-Bahn-Haltestellen ihre Versorgungslage in neue Sphären und reduzieren Fahrzeiten so massiv, dass das Einzugsgebiet für Fachkräfte förmlich durch die Decke geht. Zudem schaffen diese Landesteile Entwicklungsflächen für Neuansiedlungen direkt an diesen öV-Knoten. Der Kanton St.Gallen hat es verschlafen, sich bei den grossen Infrastrukturvorhaben im Verkehr durchzusetzen und hängt deshalb abseits der neuen Verkehrsachsen. Dass die NEAT mit dem Splügentunnel einmal in der Ostschweiz geplant war, haben viele vergessen. Dafür spielt heute die Musik des Wachstums an der Gotthard- und Lötschberg-Achse. In der Ostschweiz wird die Wirtschaftsentwicklung primär im Dreieck Winterthur – Romanshorn – Konstanz/Kreuzlingen stattfinden, da der Kanton Thurgau ein cleveres System aus Fern-, Regional- und S-Bahnverkehr aufgebaut hat. Man könnte auch sagen: Der Apfel schlägt die Wurst.

Sie prophezeien somit dem Kanton St.Gallen eine negative Entwicklung?

Die ist doch schon längst Realität. Dass die Stadt St.Gallen bei der Bevölkerung wie auch den Arbeitsplätzen von unternehmensnahen Dienstleistungen stagniert und in der Privatwirtschaft Arbeitsplätze verliert, hängt eng mit der Fehlentwicklung des öffentlichen Verkehrs zusammen. Mobiles Arbeiten dank neuer Kommunikationstechnologien hat auch die Erwartungen von qualifizierten Arbeitskräften verändert. Talente, die mit dem Kopf arbeiten, wollen auf dem Arbeitsweg produktiv sein. Und das bieten nur schnelle Bahnverbindungen mit raschen Umsteigezeiten. Wer ein Lenkrad halten muss, schreibt keine Konzepte oder beantwortet Mails und ist bis aufs Telefonieren unproduktiv. Diese Zusammenhänge müssten auch Bürgerliche erkennen, denn der öffentliche Verkehr ist nicht nur etwas für Grüne, Klimafreunde oder Sandalenträger. Bahnhöfe und S-Bahn-Knoten sind die Treiber für die Entwicklung von Dienstleistungsstandorten – und damit auch für kreative, wissensbasierte und wertschöpfungsintensivere Arbeitsplätze. Wir klammern uns aber lieber ans Dogma, ein Industriekanton zu bleiben.

Kann man diesen Rückstand wieder aufholen?

Beim Umbau zu einem besseren öV-Angebot hat man in St.Gallen Jahrzehnte verschlafen, und diese Versäumnisse kann man wohl fast nicht mehr aufholen. Alle anderen Wirtschaftsregionen stehen mit ihren Projekten bereits in den vorderen Startreihen des Buhlens um Infrastrukturen. Durchgangsbahnhöfe, neue S-Bahn-Halte, Tunnelanlagen, neue NEAT-Strecken: all dies wird nicht in der Ostschweiz realisiert. Bei verschiedenen Wachstumsindikatoren liegt St.Gallen bereits hinter der Restschweiz. Und in Bern gehen bei der Priorisierung der Verkehrsinfrastruktur Gelder dorthin, wo Wachstum ist. Die Unfähigkeit der St.Galler, ihre Gesamtverkehrspolitik mit Weitsicht zu gestalten, wird so immer mehr zum Bumerang.

Das tönt ziemlich nach Spielende. Lässt sich nichts tun?

Was die St.Galler vielleicht retten kann, ist ein Aufkommen von autonomen Fahrsystemen, die zumindest ein Arbeiten während der Fahrt auf der Strasse erlauben. Aber das wird noch dauern. Besser man ringt sich zu Kompromissen durch, macht endlich seine Hausaufgaben und entdeckt die integrale Verkehrspolitik – also die gezielte Vernetzung der Verkehrsträger Auto-Bahn-Bus-Langsamverkehr – als ein taktisches Instrument zur Entwicklung des Dienstleistungs- und Technologiestandorts Ostschweiz.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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