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Gastkommentar

Paradoxe Situation auf dem Arbeitsmarkt – Wenn Algorithmen die Jobvergabe bestimmen

Ist der Fachkräftemangel wirklich eine der grössten Herausforderungen von Schweizer Unternehmen? Dies wollen uns Umfragen weismachen. Der Gastautor setzt ein Fragezeichen dahinter, denn Tatsache ist, dass die digitalen Recruiting-Methoden das inländische Arbeitskräftepotential oft ignorieren.

Daniel Wessner am 31. Juli 2024

Was wir als Arbeitsmarktbehörde beobachten, mutet teils seltsam an. Zum einen herrscht ein Arbeitskräftemangel, zum anderen sind HR-Verantwortliche kaum bemüht, Stellensuchende, die nicht zu hundert Prozent ihren Vorstellungen entsprechen, persönlich kennenzulernen und einer Evaluation zu unterziehen.

Paradoxe Situation auf dem Arbeitsmarkt

Selbst erfahrene, kompetente Berufsleute kommen nicht durch das engmaschige Netz der Bewerbungs-Algorithmen, wenn sie die 55-er-Grenze überschritten haben. Konkret heisst das: Das Recruiting-Programm filtert geeignete Personen heraus, wenn sie der ü-55-Generation angehören. Dass die Altersguillotine bei der Bewerbungsauswahl gnadenlos zuschlägt, wird natürlich nur hinter vorgehaltener Hand zugegeben. Der Computer und damit meistens auch die HR-Abteilungen tolerieren keine Abweichung beim Anforderungsprofil. Das "Zero Gap"-Phänomen gilt sowohl fürs Alter als auch für den beruflichen Werdegang. Bewerbungen mit Karrierebrüchen oder Branchenwechsel werden oft präventiv und resolut aussortiert. Dafür rekrutiert man Personal im Ausland; schliesslich hat die Wirtschaft im Rahmen der Personenfreizügigkeit freien Zugang zu Arbeitskräften aus der ganzen EU und den EFTA-Staaten. Im letzten Jahr nahm die Nettozuwanderung in die Schweiz gegenüber dem Vorjahr um 17 506 Personen auf 98 851 Personen zu. Dies ist hauptsächlich auf die anhaltende Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zurückzuführen.

Hartnäckige Klischees überwinden

Das Klagen über den Arbeitskräftemangel und die relativ tiefe Arbeitslosenquote suggerieren, dass die Jobsuche in der Schweiz kein Problem ist. Doch in unserem System werden die ausgesteuerten Personen – das sind Langzeitarbeitslose, deren Anspruch auf Arbeitslosengeld erloschen ist – nicht erfasst. In der Schweiz wurden 2023 rund 25'000 Personen ausgesteuert, im Kanton Thurgau waren es 834. Sie fehlen in der Berechnung der Arbeitslosenquote. Die Politik fordert, dass wir alle länger arbeiten müssen, um unsere Renten zu finanzieren. Wie soll das gehen, wenn nach wie vor Vorurteile gegenüber älteren Arbeitnehmenden bestehen und sich Arbeitgebende wehren, ältere Personen einzustellen. Auf dem Arbeitsmarkt und bei uns auf dem RAV gibt es qualifizierte, gesunde Arbeitskräfte, die fähig und leistungsbereit sind, einen guten Job zu erfüllen. Das hartnäckige Vorurteil gegenüber Älteren, sie seien unflexibel und digital nicht mehr lernfähig, muss zwingend abgebaut werden. Das bedeutet aber auch, dass ältere Personen selber darauf achten müssen, dass sie arbeitsmarktfähig bleiben. Lebenslanges Lernen wird sowohl im Beruf als auch in der Gesellschaft gefordert.

Umdenken muss und wird stattfinden

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn sich HR-Spezialisten auf ihren eigenen Job bewerben und so erkennen, wie es ist, wenn sie sich in den von ihnen gestalteten, oft KI-gesteuerten Selektionsprozessen beweisen müssten. Bis endlich ein Mensch ein Bewerbungsdossier anschaut und ein persönliches Urteil fällt, dauert es vor allem in grossen Unternehmungen sehr lange - wenn es überhaupt dazu kommt. Um diesem Umstand Gegensteuer zu geben, veranstaltet das Thurgauer Amt für Wirtschaft und Arbeit in einer Kooperation mit KV Ost zweimal jährlich einen Jobmarkt. Entgegen dem KI-Trend reden beim Jobmarkt Stellensuchende direkt mit potentiellen Arbeitgebenden. Menschen treffen Menschen. Das mag altmodisch erscheinen, aber unsere Erfahrungen zeigen: Es wirkt!

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Autor/in
Daniel Wessner

Daniel Wessner ist lic. iur. HSG und Rechtsanwalt. Er leitet seit 2016 das Thurgauer Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) mit rund 200 Mitarbeitenden als kundenorientiertes Dienstleistungszentrum für die Wirtschaft, die Unternehmen und die Stellensuchenden. Er engagiert sich im Vorstand der Schweizerischen Arbeitsmarktbehören VSAA, in der Eidgenössischen Arbeitskommission EAK sowie in zahlreichen weiteren nationalen, kantonalen und grenzüberschreitenden Gremien. Vor seiner Tätigkeit im Kanton Thurgau war er in leitenden Funktionen in der Finanzbranche und in der Unternehmensberatung in Zürich tätig.

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