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Irrlichternde Jungpartei

Jungfreisinnige: Ab in den Statistik-Nachhilfeunterricht!

Die Jungfreisinnigen belasten das Bundesgericht mit einer Klage, welche kaum nachvollziehbar ist. Und das offenbar alleine aufgrund eines halbverdauten Artikels in einer Fachzeitschrift. Diese Zwängerei steht einer Jungpartei denkbar schlecht an, welche sonst mit konstruktiven Vorschlägen auffällt.

Thomas Baumann am 28. Juli 2024

Die Jungfreisinnigen sind hässig. Nicht wegen des Frauenstreiks – pardon: feministischer Streik – wo sowieso wieder einmal alle «hässig» waren. Sondern wegen des Abstimmungsbüchleins des Bundes zur Volksabstimmung am 9. Juni. Genauer gesagt, wegen dieser Grafik zur Kostenbremse-Initiative, welche bekanntlich vom Souverän abgelehnt wurde:

Grafik

Die Grafik gibt das Wachstum dreier unterschiedlicher Variablen in einem Zeitraum von zehn Jahren wieder. Die Frage: Ist ein Vergleich dieser Variablen in dieser Art angemessen? Die Jungfreisinnigen meinen: nein.

Prüfen wir nach. Die Frage lässt sich analytisch in zwei Teilfragen aufspalten: ob (1) die Wahl der Variablen an sich angemessen ist und ob (2) tatsächlich Gleiches mit Gleichem verglichen wird.

Handwerklich saubere, sachgerechte Grafik

Teilfrage (1): Die Kostenbremse-Initiative wollte, dass sich die Kosten der obligatorischen Krankenversicherung – und damit die Krankenkassenprämien – «entsprechend der schweizerischen Gesamtwirtschaft und den durchschnittlichen Löhnen entwickeln.»

Man kann leicht feststellen: Die im Initiativtext erwähnten drei Variablen sind genau dieselben wie in der Grafik im Abstimmungsbüchlein: Entwicklung der Krankenkassenprämien, der Gesamtwirtschaft und die Lohnentwicklung. Die Wahl der Variablen in der Grafik ist somit eindeutig sachgerecht.

Bleibt die Frage, ob eine Grafik als Stilmittel angemessen ist: Einerseits schafft sie es, klar und einfach die Problemstellung aufzuzeigen, welche die Initianten überhaupt zu ihrer Initiative motiviert hat. Andererseits wird damit auch gleich noch das beste Argument der Initianten ziemlich plakativ transportiert. Die Initianten sind damit sicher nicht schlecht weggekommen.

Teilfrage (2): Lassen sich die gewählten Variablen auf diese Art und Weise vergleichen, werden also nicht gerade Äpfel mit Birnen verglichen? Auch diese Frage kann bejaht werden. Bei allen Variablen handelt sich allesamt um nominale Werte pro Kopf. Die Bundeskanzlei hat hier saubere statistische Arbeit abgeliefert.

Die Grafik im Abstimmungsbüchlein ist eine einfache Grafik: Sie enthält die für die Initiative relevanten Variablen und weist keine handwerklichen Fehler auf. Woran stossen sich die Jungfreisinnigen also daran – abgesehen davon, dass sie dem politischen Gegner in die Hände spielte?

«Gewerkschaftspropaganda»

Ein Grund lautet: Der Bund verbreite damit «Gewerkschaftspropaganda». Konkret: «Der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die SP verwenden irreführende Grafiken dieser Art schon seit Jahrzehnten.» Im Abstimmungsbüchlein hätten aber «tendenziöse Grafiken von Interessengruppen nichts zu suchen.»

Das Argument ist schwach: Eine Grafik mit drei Variablen ist beileibe keine Erfindung der Gewerkschaften, sondern ungefähr so verbreitet wie Sand am Meer. Nicht jeder, der sich einer solchen Grafik bedient, macht damit gleich Gewerkschaftspropaganda.

Zudem: Es waren nicht die Gewerkschaften, sondern politisch durchaus anders gelagerte Kreise, welche diese Initiative lancierten. Der Bundeskanzlei vorzuwerfen, er betreibe Gewerkschaftspropaganda zielt damit komplett ins Leere. Gerade auch darum, weil der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die SP die Kostenbremse-Initiative ablehnten.

Das andere – etwas bessere – Argument der Jungfreisinnigen: Ein Anstieg der Krankenkassenprämien um ein Prozent bedeute in Franken nicht dasselbe wie ein Anstieg des BIP oder der Löhne um ein Prozent. Konkret: «Die gezeigte Grafik verzerrt die Grössenverhältnisse der Kosten enorm. Während ein Anstieg der Krankenkassenprämien um 1% Mehrkosten von 33 Franken bedeutet, stellt ein Anstieg der Medianlöhne um 1% Mehreinnahmen von 786 Franken dar.»

Tiefe Basis, hohe Basis

Mit anderen Worten: In der Grafik würden letztlich eben doch Äpfel mit Birnen verglichen und der irreführende Eindruck erweckt, dass «die Löhne [sic!] scheinbar vom schnellen Anstieg der Krankenkassenprämien zunichtegemacht» würden, wie es in der Medienmitteilung der Jungfreisinnigen reichlich salopp heisst.

Was damit gemeint ist, erschliesst sich einem erst aus dem Text der Beschwerdeschrift selber: Dort ist die Rede von der «Kostensteigerung im Gesundheitswesen», welche die «Nominallohnsteigerungen scheinbar zunichte mache». Referenzgrösse sind also die Lohnsteigerungen, genauer gesagt die nominalen Lohnsteigerungen.

Ein einfaches Beispiel zur Verdeutlichung: Eine Einzelperson verdiene heuer 5000 Franken im Monat und bezahle 500 Franken Krankenkassenprämie. Damit verbleiben nach Abzug der Krankenkassenprämie noch 4500 Franken. Steigt der Lohn im Folgejahr um 2% und die Krankenkassenprämie um 10%, dann sieht die Rechnung so aus: 5100 Franken Lohn minus 550 Franken Prämie = 4550 Franken. Die Person hat, trotz deutlich gestiegener Krankenkassenprämien, nominal mehr Geld zur Verfügung als vorher.

Die Logik dahinter: Weil die Krankenkassenprämien von einer relativ tiefen Basis aus wachsen, kann dieser Anstieg durch den moderaten Anstieg einer anderen Variable von einer höheren Basis aus – zum Beispiel des Lohns – überkompensiert werden.

Gewicht der Krankenkassenprämien steigt

Dieses Argument ist zwar korrekt, doch dieser Prozess kann nicht ewig so weitergehen: Wenn die Krankenkassenprämien deutlich schneller steigen als die Löhne, steigt damit auch die – ehemals – eher tiefe Basis an, von der aus die Krankenkassenprämien wachsen.

In Zahlen: Die mittlere Prämie für Erwachsene beträgt derzeit 426.70 Franken. Verdoppeln sich die Prämien alle zwanzig Jahre, wie es in den letzten vierzig Jahren der Fall gewesen ist, dann beträgt die mittlere Prämie im Jahr 2044 bereits rund 850 Franken und im Jahr 2064 gar 1700 Franken. Eine fünf- oder zehnprozentige Erhöhung der Krankenkassenprämien wird spätestens dann massiv durchschlagen.

Die untenstehende Grafik zeigt diese Entwicklung bildlich: Das Einkommen betrage 5000 Franken vor Prämien, die Krankenkassenprämie entspreche exakt der aktuellen mittleren Prämie von 426.70 Franken. Die Nominallöhne wachsen – wie im Durchschnitt von 2012 bis 2022 – um 0,6% pro Jahr, die Krankenkassenprämien um 3,5% jährlich, wie es ungefähr dem langjährigen Durchschnitt entspricht.

Grafik

Das Einkommen nach Krankenkassenprämie steigt in diesem Beispiel in nächsten 25 Jahre an, genau so wie es die Jungfreisinnigen behaupten, bevor es seinen Höhepunkt erreicht und daraufhin wieder zurückgeht. Dies wohlgemerkt bei einer Inflationsrate von Null Prozent.

Bedeutung der Inflation

Beträgt die Inflation nur schon mickrige 0,1% Prozent pro Jahr, wird der Wendepunkt bereits fünf Jahre früher erreicht. Und beträgt die Inflation ebenfalls noch geringe 0,27%, wie im Jahresdurchschnitt 2012-2022, geht es mit dem frei verfügbaren Einkommen bloss noch in den ersten paar Jahren ganz leicht aufwärts.

Weitere Faktoren, welche das frei verfügbare Einkommen ebenfalls negativ beeinflussen können, wie beispielsweise steigende Mietpreise, sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Natürlich hängen die Resultate, wie in jedem Modell, auch hier von den gewählten Parametern ab: Je höher das Einkommen, desto später der Rückgang des frei verfügbaren Einkommens. Genauso bedeutsam ist jedoch auch die Inflationsrate.

Aus der Grafik im Abstimmungsbüchlein lässt schlicht und einfach nicht herauslesen, ob die Haushalte real mehr oder weniger Geld zur Verfügung hatten. Wäre die Inflation 2012-2022 beispielsweise annähernd gleich stark wie die Nominallöhne gestiegen (die unterste, eher flach und kontinuierlich steigende Linie), dann hätte der Anstieg der Krankenkassenprämien sehr wohl den realen Anstieg der Löhne «zunichte machen» können.

Die höhere Basis des Lohnes ist eben keine Einbahnstrasse: Zwar führt sie durchaus dazu, dass sich ein prozentualer Lohnanstieg in nominalen Schweizer Franken viel deutlicher manifestiert als eine entsprechende prozentuale Erhöhung der Krankenkassenprämie, wie die Jungfreisinnigen richtigerweise monieren.

Das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille: Auch die Inflation schlägt viel stärker durch. Ein Prozent mehr Inflation bedeutet in diesem Fall 786 Franken Reallohnverlust – die reale Last der Krankenkassenprämie hingegen wird nur um 33 Franken reduziert.

Doch dazu hört man von den Jungfreisinnigen kein Wort. Die reale Seite bleibt dort völlig ausser Betracht.

(Grafiken: pd)

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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