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Ostschweizer Unternehmergeist

Industrielle Blüte: Den Anfang machte ein Dorfstreit im Toggenburg

Im 19. Jahrhundert nahmen die Mobilität und die Industrie in der Ostschweiz Fahrt auf. Wer damals die neuen Möglichkeiten erkannte, konnte es zu Ansehen und zu Vermögen bringen. Der Toggenburger Johann Baptist Müller war einer jener Pioniere.

Adrian Zeller am 01. August 2024

Wer heute ein Hotelzimmer buchen will, wirft möglicherweise einen Blick in eine Bewertungsplattform im Internet. Vergleichbare Analysen der Unterkünfte gab es bereits vergangenen Zeiten. Über das ehemalige Hotel Schöntal in Wil war in einem Reiseführer - in Originalschreibweise - nachzulesen: «enthält elegante Speise- und Familiensäle, gut meublierte Gastzimmer und Stallungen und Remisen. Deutsche und französische Zeitungen und Zeitschriften sind zur Unterhaltung aufgelegt, Pferde und Wagen zur Verfügung der Reisenden. Die Bedienung ist sehr gut und beobachtet Alles, was auf den Comfort Bezug hat.»

Grosse Nachfrage

Zum erwähnten Hotel-Komfort gehörte unter anderem eine Pferdkutsche, die ankommende Gäste und ihr Gepäck direkt vom Bahnhof direkt ins Hotel an der heutigen Oberen Bahnhofstrasse chauffierte.

Dieser Sonderservice gibt einen beispielhaften Einblick in das Erfolgsrezept des ehemaligen Hotels Schöntal. Zu seinem Geschäftsmodell gehörten vor allem die Postkutschen, deren Passagiere in Wil Unterkunft und Verpflegung suchten. Für die Zugtiere gab es Stallungen und Remisen. Das Geschäft mit den Reisenden florierte dermassen, dass die Stallungen ausgebaut werden mussten. Rund 80 Tiere sollen zweitweise in ihnen gestanden haben. Im 19. Jahrhundert wurden die Menschen mobiler.

Auch die Post und der Telegraf waren im Schöntal-Gebäudekomplex platziert. Mit anderen Worten: In dieser Liegenschaft liefen viele Fäden zusammen, die für Einnahmen sorgten.

Neues Geschäftsfeld

Als 1856 die Bahnlinie Winterthur-St. Gallen eröffnet wurde, brach eine wichtige Einnahmequelle für den Schöntal-Hotelbetrieb weg - Postkutschen waren ein Auslaufmodell. Der oben erwähnte Transportservice vom neuen Bahnhof ins Hotel an der heutigen Oberen Bahnhofsstrasse war ein geschickter Schachzug, um dennoch einen Teil der Gäste beherbergen zu können.

Gleichzeitig baute der Besitzer eine neue Gastwirtschaft in der Nähe der Bahnlinie. Mit seiner verkehrsgünstigen Lage wurde es rasch erfolgreich. Insbesondere die Gartenwirtschaft sowie die wechselnden Musikkapellen lockte das «Neuschöntal» zahlreiche Gäste an. Es bestand bis 1954.

Ursprünge in Mosnang

Doch wer stand überhaupt hinter dem Hotel Schöntal und seinem Ableger? Es war eine Familie die offenkundig einen guten Riecher für die kommenden Trends hatte. Ursprünglich stammte sie aus dem Toggenburg.

Johann Baptist

Johann Baptist Müller schien viel Unternehmergeist in sich zu tragen. 1830 baute der Kreisammann am Dorfrand von Mosnang ein grosses Schützenhaus. Er spekulierte auf Durchgangsverkehr, der für Einnahmen sorgen würden. Er setzte auf eine neue Strasse vom Toggenburg über die Hulftegg ins Tösstal. Seine Mitbürger konnten sich für dieses Projekt nicht erwärmen, es kam zu Zwistigkeiten.

In der Folge liess Müller das Schützenhaus abbrechen und in Wil als Hotel Schöntal wieder aufbauen. Am 17.April 1836 wurde es feierlich eröffnet. Es galt fortan an als bedeutendstes Haus am Platz. Zwei Jahre zuvor war in Wil die Stadtmauer mit ihren Stadttoren abgebrochen worden, damit wurde die Marktstadt leichter erreichbar, in der mittelalterlich geprägten Stadt brach eine neue Ära an. In heutiger Ausdrucksweise: Johann Baptist Müller war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Müller Fabrik

Gewerbe und Marktstadt

Die entsprechende Strasse hiess damals noch Winterthurerstrasse. Zu Müllers Zeiten wurde sie vor allem von durchziehenden Reisenden frequentiert. Über das damalige Wil heisst es im «Reise- und Handlexikon der Schweiz» (1854; Hrsg: E. Weber): «Kleine Stadt mit 1555 Einwohnern in einer fruchtbaren, angenehmen Gegend. Die Stadt liegt auf einer Anhöhe an der Strasse von Winterthur nach St. Gallen, 6 Std. von letzterer Stadt entfernt, und hat ein freundliches Aussehen.» Wil sei ziemlich gewerbereich, schreibt der Autor weiter. «Hat grosse Durchfuhr und bedeutende Wochen- und Jahrmärkte.»

Der rege Reiseverkehr im verkehrstechnisch günstig gelegenen Wil hatte auch Johann Baptists Bruder Josef Ambros ermutigt, er baute seinerseits das Gasthaus Freihof am heutigen Schwanenkreisel.

Die Müller-Brüder bauten im Weiteren das Gasthaus Rössli an der Toggenburgerstrasse. Es wurde vor allem von Fuhrleuten aufgesucht, die Richtung Toggenburg unterwegs waren oder von dort kamen.

Die Familie Müller diversifizierte zudem ihr Hotelgewerbe mit Textilproduktion. Am Friedtalweg entstand hinter dem heutigen Centralhof – dem ehemaligen Standort des Hotel Schöntal - ein ganzer Industriekomplex. Er entwickelte sich zu einer der grössten Buntwebereien im Land.

Die Müllschersche Fabrik beschäftigte in seiner Spitzenzeit 200 - 300 Mitarbeitende. Sie exportierte ihre Produkte bis nach Indien, Japan und Afrika. Die Müller-Söhne brachten zusätzliche Fachkompetenz in den Betrieb ein: Johann Baptist Müller Junior sammelte nach einer kaufmännischen Lehre in Wattwil in Genf und in Lyon Berufserfahrungen. Er setzte als Pionier auf mechanische Webstühle.

Sein jüngerer Bruder Johann Fridolin Müller absolvierte im elterlichen Betrieb eine Ausbildung. Er ergänzte sie mit dem Besuch einer Handelsschule in Genf. In England und in Schottland studierte er die Technologie der Webmaschinen und brachte seine Kenntnisse in die Wiler Fabrik ein.

Neuanfang nach Katastrophe

In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gerieten die Textil-Produkte aus Wil aus dem Hause Müller gegen die Konkurrenz England und aus Japan zunehmend ins Hintertreffen. Zudem kam es zu erheblichen Wechselkursverlusten. Und dann brannte 1895 auch noch die Fabrik ab.

Nachdem die erfolgreichen Jahre vorbei waren, musste ein neues Geschäftsfeld gefunden werden. Man setzte künftig auf die Herstellung von hochwertigen Filzen. So entstand aus der ehemaligen Buntweberei eine Filzfabrik. Sie besteht bis heute, mittlerweile ist sie in Münchwilen ansässig.

(Bilder: Stadtarchiv Wil)

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Autor/in
Adrian Zeller

Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.

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