Der Wahlherbst begann mit einem Sturm in der Sonntagspresse. Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) möchte das Krankenversicherungsobligatorium in Frage stellen, hiess es dort. Ist das wirklich so - und was ist davon zu halten? Unser Autor ordnet ein.
Es war eine bewusste Provokation der Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli in der «Sonntagszeitung». Zuvor sagte sie allerdings allerhand Wissenswertes aus der Warte der obersten Spitalplanerin eines Kantons.
Zum Beispiel: «Die Spitäler sind mit Personal konfrontiert, das weniger arbeiten, aber gleich viel oder sogar mehr verdienen möchte. Dabei machen sie die Erfahrung, dass, sobald die Löhne erhöht werden, oftmals das Pensum reduziert wird.» Was natürlich zu häufigeren Wechseln in den Arbeitsteams und damit zu einem schlechteren und ineffizienteren Arbeitsklima führt, was wiederum mit höheren Löhnen entschädigt werden sollte: ein Teufelskreis. Wer einen Betrieb unter solchen Voraussetzungen organisieren muss, ist tatsächlich nicht zu beneiden.
Und dann fiel der ominöse Satz: «Es braucht eine grundlegende Reform. Dabei darf es keine Tabus geben. Meiner Meinung nach sollte sogar eine Abschaffung der obligatorischen Krankenversicherung in Betracht gezogen werden.»
Natürlich war es überaus diplomatisch formuliert: «sogar», «in Betracht ziehen». Aber jemand wie Natalie Rickli ist Profi genug, um zu wissen, was die Medien daraus machen: eine Schlagzeile.
Medien spitzten Aussage zu…
In der «Sonntagszeitung» selbst lautete diese noch: «Natalie Rickli stellt Obligatorium in Frage». Selbstverständlich auf der Frontseite - dort, wo eine solche Schlagzeile auch hingehört. In der elektronischen Ausgabe wiederum wird als Titel das vermeintliche Zitat von Natalie Rickli in Anführungszeichen verwendet: «Wir sollten eine Abschaffung der obligatorischen Krankenversicherung in Betracht ziehen».
Das Wörtchen «sogar» wurde dabei nicht zufällig weggelassen - und in die URL verbannt, wo es sowieso niemand zur Kenntnis nimmt.
Wenn Medien voneinander abschreiben - und an diesem Sonntag war tatsächlich der «Sonntagszeitung» die grosse Geschichte geglückt, so dass die anderen Zeitungen bloss noch versuchen konnten, auf den fahrenden Zug aufzuspringen - dann spitzt sich die Geschichte in der Regel zu.
… und buhlen um Aufmerksamkeit
Dies folgt dem ehernen Gesetz der Aufmerksamkeitsökonomie: Wer bloss Mitläufer ist, der versucht selber, etwas Aufmerksamkeit für sich zu generieren, indem er die Geschichte noch ein bisschen stärker würzt.
So meinte der Blick bereit um 1:30 Uhr nachts: «Rickli will Abschaffung der Krankenkasse prüfen». (Nein, natürlich wollte Natalie Rickli nicht Abschaffung der Krankenkassen an sich, sondern - wenn schon - bloss die Abschaffung der Versicherungspflicht prüfen. Auch auf der Blick-Redaktion ist man nach Mitternacht offensichtlich etwas müde…) Wobei von einer ausgearbeiteten Vorlage, die eine Regierungsrätin wirklich prüfen könnte, natürlich keine Rede sein kann.
Dies hinderte das Medienportal «Watson» aber nicht daran, bereits sieben Stunden später, um 8:20 Uhr früh, zu verkünden, dass die Prüfung bereits beendet sei: «Zürcher Gesundheitsdirektorin will Krankenkassen-Obligatorium abschaffen.»
Ein überaus rascher Entscheid - man könnte glatt meinen, «Watson» hätte in der Manier von Sherlock Holmes die ganze Nacht vor dem Schlafzimmer von Natalie Rickli verbracht, um seine Leser noch vor dem sonntäglichen Frühstück über den Entscheid zu informieren.
Pflästerli-Politik
Doch was sagte Natalie Rickli wirklich - und was ist davon zu halten? Zuerst einmal kritisierte sie die Pflästerli-Politik im Gesundheitswesen - und damit hat sie zweifelsohne recht. Beleg dafür: In der «Verordnung über die Krankenversicherung» des Bundes sind die Fussnoten mit den Änderungen auf manchen Seiten ebenso lang wie der eigentliche Verordnungstext. Kein Wunder, heute ist bereits die 68. Version (!) dieser Verordnung in Kraft - und das, obwohl sie erst am 1. Januar 1996 erlassen wurde. Zum Vergleich: Selbst das altehrwürdige Zivilgesetzbuch ZGB von 1921 bringt es aktuell bloss auf 64 Versionen.
Ihr Fazit: Das aktuelle Krankenversicherungssystem, das 1996 in Kraft trat und eine Versicherungspflicht für die Grundversicherung beinhaltet, sei aus finanzieller Sicht gescheitert. Die stetig steigenden Prämien würden vor allem den Mittelstand belasten: «Bei den Armen werden die Prämien vom Staat übernommen, für die Reichen stellen sie kein Problem dar.» Dadurch hätten «viele Leute Schwierigkeiten, die Krankenkassenprämien zu bezahlen.»
Einige Fakten
Wiewohl diesen Ausführungen grossmehrheitlich zuzustimmen ist, sind einige Angaben etwas zu präzisieren:
1. Bereits vor Einführung des Obligatoriums 1996 waren circa 99 Prozent der Bevölkerung grundversichert.
2. Auf der Webseite www.geschichtedersozialensicherheit.ch, welche von den Universitäten Zürich und Basel im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) betrieben wird, findet man die folgende Information: «Alleine zwischen 1966 und 1989 stiegen die Ausgaben der Krankenkassen um den Faktor 8,6, während sich die Arbeiterlöhne nur um den Faktor 3,6 und die Konsumentenpreise um den Faktor 2,4 erhöhten.»
3. Gemäss der Statistik der obligatorischen Krankenversicherung des BSV liegt die aktuelle Zahl der Versicherten mit Betreibung(en) ungefähr auf dem Niveau der Jahre 2010-2015, die Zahl der Versicherten mit sistierten Leistungen gar etwas tiefer - und dies trotz höher Bevölkerungszahl.
KVG-Obligatorium ist nicht das Problem
Der Grund für die massiven Kostensteigerungen im Gesundheitswesen ist also mit Sicherheit nicht das KVG-Obligatorium - wobei die Kritik von Natalie Rickli auch gar nicht primär auf dieses abzielte. Und allen Unkenrufen zum Trotz scheinen es die Menschen zu schaffen, die stetig höheren Krankenversicherungsprämien in ähnlichem Ausmass wie früher zu stemmen, wie die Zahlen zu den Betreibungen und Sistierungen zeigen.
Obwohl Kostensteigerungen im Gesundheitswesen offenbar eine lange Geschichte haben - das obenstehende Zitat belegt es - herrschten zur Zeit der Einführung des Versicherungsobligatoriums 1996 noch geradezu paradiesische Zustände: Der nationale Median der monatlichen Prämien für Erwachsene lag je nach Prämienregion zwischen 165 und 172 Franken. Heute dürften es gut 400 Franken sein - die letzten verfügbaren Zahlen sind für das Jahr 2022 und ergeben eine Durchschnittsprämie von 372 Franken.
Früher war es tatsächlich einfacher…
Und das ist noch nicht alles. Damals musste sich nicht mit komplizierten alternativen Versicherungsmodellen herumschlagen, wer Prämien sparen wollte - nur zwei Prozent aller Versicherten waren 1996 einem solchen angeschlossen, im Gegensatz zu fast achtzig Prozent heute. Auch wählten noch rund sechzig Prozent aller Erwachsenen eine Minimalfranchise - heute sind es noch 45 Prozent. Die Minimalfranchise lag damals noch bei 150 Franken - und wer die Maximalfranchise «riskierte», musste höchstens 1500 Franken auf einmal bezahlen und nicht wie heute 2500 Franken.
Auch wurde die statistisch ausgewiesene Prämienhöhe 1996 inklusive Unfalleinschluss berechnet - während heute die effektiv geforderten Prämien den Daten zugrunde liegen. Weil die meisten Leute arbeiten, beinhalten letztere zumeist keinen Unfalleinschluss. Ein kleiner statistischer Kniff, um die Prämienentwicklung leicht weniger krass erscheinen zu lassen. Dennoch kostete 1996 die günstigste Krankenversicherung im Wallis bloss 58 Franken und auch im Kanton Thurgau konnte man sich noch für 60 Franken versichern lassen.
… und billiger
Eine Spezialität waren auch die Krankenkassen für Studierende: Für 50-60 Franken im Monat war man versichert - ein Anreiz, immatrikuliert zu bleiben, selbst wenn man nicht mehr studierte. Die verbreitete Existenz «ewiger Studierender» hatte durchaus handfeste ökonomische Gründe.
Damals kamen Geringverdiener wie heute auf etwa 4000 Franken brutto im Monat. Eine monatliche Krankenkassenprämie von 170 Franken - oder vielleicht 120 Franken mit einer Franchise von 1500 Franken - war da mit links bezahlt. Trotz fehlendem Obligatorium wäre damals niemand auf die Idee gekommen, auf gut Glück zu hoffen - und wenn es schiefgeht, zahlt eben der Staat.
«Nach mir die Sintflut»
Genau diese Maxime wäre aber heute bei vielen gering verdienenden Gesunden - ohne grosse finanzielle Zukunftserwartungen und ohne Ersparnisse - die ökonomisch optimale Handlungsmaxime: Man spare sich die 400 Franken jeden Monat für die Krankenkasse, stocke damit sein Monatsbudget auf - und lebe dann halt, falls wirklich der unwahrscheinliche Fall eines teuren gesundheitlichen Problems auftreten sollte, mit 2000 Franken vom Sozialamt oder reduziere sein Arbeitspensum entsprechend, anstatt lebenslang Schulden abzustottern. Kein riesiger Unterschied zu den etwa 3000 Franken netto, welche einem Tieflohnbezieher nach Abzug der Krankenkassenprämien zur Verfügung stehen.
Würde das Obligatorium heute tatsächlich abgeschafft, dann verzichten wohl viele Personen, welche in Tieflohnbranchen arbeiten, beim heutigen Prämienniveau darauf, eine Krankenversicherung abzuschliessen. Zumindest würde dies aus individuell-nutzenmaximierender Perspektive oftmals Sinn ergeben.
Eine Grundversicherung für Geringverdiener
Eine Abschaffung des Krankenversicherungsobligatoriums hat Natalie Rickli also durchaus nicht gefordert - eine solche Forderung wäre, wie gesehen, auch reichlich kurzsichtig. Ganz im Gegenteil meinte sie: «Eine Grundversicherung sollte in erster Linie für die Geringverdiener da sein.»
Tatsächlich forderte sie eher eine Krankenversicherung mit reduziertem Leistungsauftrag - und geringeren Prämien. Eine Krankenversicherung, die sich alle leisten können.
Neu ist das nicht, auch die FDP präsentierte Anfang Juli ihre Idee einer «Grundversicherung light» - und wollte damit auf Wahlkampftour gehen. Rickli ist ihr nun zuvorgekommen.
Parteien gönnen einander nichts
Dass die SVP einfach die Idee der FDP abkupfern würde, stimmt so aber auch wieder nicht. Am 10. März 2021 versenkte der Nationalrat eine Motion von Yvette Estermann - wie Rickli Mitglied der SVP - wuchtig mit 47:140 stimmen.
Dabei erhielt sie keine einzige Ja-Stimme von einem Vertreter einer anderen Partei - und selbst vier SVP-Vertreter enthielten sich. Der Titel der Motion: «Eine 'Krankenversicherung light'. Eine günstige Alternative?»
Damals konnte sich noch kein einziger FDP-Nationalrat für das Anliegen erwärmen - und heute fordert man dasselbe. Offenbar gewichtet man dort strategische Überlegungen höher als inhaltliche.
Ein Gesundheitswesen wie vor 20 oder 25 Jahren?
Eine «Krankenversicherung light» auf, zum Beispiel, dem medizinischen Niveau von 1996 - mit Prämien von 1996: Wäre das etwas?
1996 war nicht alles schlecht, auch damals lebte man schon gut. Fakt ist aber auch: Damals war die Lebenserwartung für Männer noch fünf Jahre tiefer als heute, bei den Frauen sind es etwa drei Jahre. Nicht alles, aber ein Teil davon hängt natürlich mit der besseren Gesundheitsversorgung von heute zusammen.
Es ist auch nicht anzunehmen, dass man beispielsweise im Jahr 2050 immer noch bereit wäre, sich in der reichen Schweiz auf dem medizinischen Stand von 1996 behandelt zu lassen. Der Stand von 2023 müsste es doch wohl mindestens sein. Dann wäre man aber wieder bei den heutigen 400 Franken Monatsprämie pro Person.
Das Problem wird bloss vertagt
Oder anders gesagt: Will man nicht ewig auf dem medizinischen Niveau eines Entwicklungslandes verharren, sind Prämiensteigerungen im bisherigen Umfang unvermeidlich - sie finden bei einer «Krankenversicherung light» einfach etwas später bzw. von einem tieferem Niveau aus statt.
Statistisch besprochen: Die Kurve der Kostensteigerungen wird nicht flacher - sie wird bloss nach unten verschoben. Damit erreicht man ausschliesslich einen «Niveau-Effekt» - verringert die Wachstumsrate selber aber überhaupt nicht. Die Probleme treten bloss etwas später auf.
Damit gewinnt man etwas Zeit, löst aber die Probleme nicht - ein typisches Vorgehen in der Politik. Und dies zu dem Preis, dass die Qualität der Gesundheitsversorgung dem aktuell möglichen Niveau des Machbaren für einen Grossteil der Bevölkerung immer um etliche Jahre hinterherhinkt. Eine zukunftsfähige Lösung sieht definitiv anders aus!
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.