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Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

Betrugsopfer schweigen häufig, weil die Scham zu gross ist. Nicht so die Ostschweizerin Ruth Van de Gaer Sturzenegger. Mit ihrem neuen Buch möchte sie die Gesellschaft wachrütteln – denn vor den Betrügern sei niemand gefeit.

Manuela Bruhin am 08. April 2024

Ruth Van de Gaer Sturzenegger, Sie haben bei einem perfiden Online-Betrug fast eine Million Franken verloren. Viele Opfer schweigen, weil sie sich schämen. Weshalb wählen Sie einen anderen Weg?

Der Punkt, der mir bewusst werden liess, dass ich das nicht nur mit mir selber aushandeln kann, kam während meiner Anzeige bei der Polizei. Es war zusammengefasst eine sehr ernüchternde Angelegenheit und hat etwas in mir verändert. Zu diesem Zeitpunkt habe ich entschieden, dass ich die Menschen warnen und andere Betroffene unterstützen möchte. Mit meiner Geschichte will ich dazu beitragen, dass Geschädigte das traumatische Ereignis verarbeiten, indem sie als erster Schritt zum Geschehenen stehen. Denn jeder kann auf die Masche der Betrüger reinfallen. Ich wusste auch, dass ich nur etwas ändern kann, wenn ich mit meiner Geschichte in die Öffentlichkeit trete.

Wie war die Anzeige denn für Sie? Haben Sie sich nicht gut aufgehoben gefühlt?

Leider nein. Vielmehr kam ich mir beinahe so vor, als wäre ich nicht das Opfer, sondern die Täterin. Es wurde mir nur aufgezählt, was nicht geht, welche Schwierigkeiten zu erwarten sind. Natürlich habe ich nicht erwartet, dass die Polizei mir verspricht, dass sie mein Geld zurückholen kann. Dennoch wäre es schön gewesen, man hätte mir ein gewisses Mass an Mitgefühl und Verständnis entgegengebracht.

Sie haben nun Ihre erste Lesung hinter sich, das Buch ist überall im Buchhandel erhältlich. Damit ist der öffentliche Weg nun unwiderruflich. Welche Reaktionen haben Sie erhalten?

Unsere erste Lesung war ein wunderschöner Erfolg und die Anwesenden haben mir zu meinem Mut gratuliert. Sie waren begeistert von unserer Lesung der «anderen Art», denn es ist eine Kombination zwischen Lesung und Cyber Talk.

Als das Buch erschienen ist, habe ich eigentlich gar nichts erwartet. Die Reaktionen, die an mich herangetragen wurden, waren sehr positiv. Erstaunlicherweise waren es Menschen, die ich teilweise seit Jahren nicht mehr gesehen und gehört habe – oder auch völlig fremde Leute. Angehörige, Freunde und Bekannte haben sich eher zurückgehalten.

Hat sich das inzwischen geändert?

Nein. Zu Beginn hat mich das sehr irritiert. Mittlerweile denke ich jedoch, dass die Menschen in meinem Umfeld einfach nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Es ist mir bewusst, dass es ein schwieriges Thema ist und sie es aus diesem Grund bewusst, oder aus Rücksicht, etwas Falsches zu sagen, lieber schweigen.

Sie wurden durch falsche Zahlen, Grafiken und Kursverläufe getäuscht. Das hat sie fast eine Million Franken gekostet. Gab es rückblickend einen Punkt, an dem Sie heute sagen: Da hätte ich aufwachen müssen?

Es gab einen Moment, bei welchem ich nach einer erneuten Zahlung von 50'000 Franken in der Nacht aufgewacht bin und ein ganz schlechtes Gefühl hatte. Das war so stark, dass ich die Zahlung zurückzog. Leider habe ich meine Bedenken mit dem Täter besprochen – und so war er über meine Gefühlslage im Bild und konnte sein manipulatives Drehbuch entsprechend wieder anpassen. Mit seinen Argumenten überzeugte er mich wieder und ich zahlte den Betrag erneut ein. Rückblickend betrachtet hätte ich unbedingt auf mein Bauchgefühl hören sollen.

Wie schwierig war es für Sie, das Buch zu schreiben?

Es war eine totale Achterbahn der Gefühle. Ich hatte sehr viele Hochs und Tiefs, immer wieder schüttelten mich Weinkrämpfe durch und ich wollte mehr als nur einmal alles hinschmeissen. Das Erlebte noch einmal bewusst durchzumachen, war eine Tortur.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie ein Bankberater einmal auf die Zahlungsvorgänge angesprochen hat. Hätten Sie sich gewünscht, dass man an dieser Stelle hartnäckiger blieb, um Sie auf die Gefahr hinzuweisen?

Einmal in diesem manipulativen Umfeld gefangen, verliert man die Fähigkeit, die Warnungen von aussen zu hören. Man wurde von den Tätern ja im Vorfeld vorbereitet, dass die Banken Fragen stellen werden. Doch man solle sich stets daran erinnern, dass es schliesslich das eigene Geld sei und man damit machen könne, was man für richtig halte. Von daher kam die Frage seitens der Bank, ob ich mir dieser Zahlung sicher sei, nicht überraschend. Sie hat mich eher wütend gemacht. Natürlich war ich mir sicher, dass ich die Zahlung auslösen wollte, sonst hätte ich sie in diesem Moment ja nicht veranlasst. Die Verbrecher wissen genau, was sie wann sagen müssen, um die Fäden in der Hand zu behalten.

Hätten Sie eine Lösung, wie es besser laufen könnte?

Unsere Empfehlung wäre, dass die Banken Geschädigte aktiv in ihre Prozesse der Kundenberatung miteinbeziehen. So würde man von den Betroffenen direkt erfahren, wie der Austausch mit dem Kunden optimiert werden kann. Dadurch, dass die Bankberater die einzigen Bezugspersonen der Betrogenen sind, mit denen sie sprechen müssen, ist es wichtig, dass diese für solche Fälle besonders sensibilisiert sind.

Sie haben beim Betrug fast eine Million Franken verloren und auch Schulden gemacht. Bestand je die Möglichkeit, dass Sie wenigstens einen Teil des Geldes wiedersehen?

Nein, mein Geld ist und bleibt weg. Die Polizei hat mir ja schon während der Anzeige-Erstattung jegliche Hoffnung genommen. Gott sei Dank hatte ich eine Wohnung in Portugal, die ich kurzfristig verkaufen konnte. So war ich zumindest in der Lage, meine Schulden zurückzubezahlen und konnte bei null anfangen.

Wo stehen Sie heute?

Ich bin immer noch strauchelnd unterwegs und muss schauen, wie ich über die Runden komme. Ich war lange Zeit als Arbeitnehmerin weg vom Arbeitsmarkt, was mich heute natürlich nicht zu einer interessanten Bewerberin macht. Aber ich denke nicht lange nach und nehme jeden Job an, der sich mir bietet. Es liegt mir viel an unserem Projekt, dass unsere Ziele zum Tragen kommen und von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Denn wir möchten so viele Menschen wie möglich vor solchen Betrugsmaschen bewahren sowie Betroffenen Mut zusprechen, sich auf unserer Webseite zu melden und auf keinen Fall aufzugeben.

Viele Betrugsopfer müssen sich vor ihrem Partner rechtfertigen, weil vielleicht das gemeinsame Ersparte zum Opfer fiel. Rückblickend betrachtet: Sind Sie froh, dass Sie alleine waren?

Auf jeden Fall. Ich wusste vom ersten Moment an, dass ich allein die Verantwortung für meine Misere trage. Ich bin niemand, der nur dasteht und jammert, sondern bin immer bedacht darauf, nach vorne zu schauen und das Ruder selbst in die Hand zu nehmen. Das hat mir unglaublich viel Stärke gegeben.

Die finanziellen Schäden sind das eine, die psychische Gesundheit etwas ganz anderes. Wie leben Sie seither? Wie haben Sie sich verändert?

Früher war es mir sehr wichtig, wie und was andere über mich denken. Das spielt für mich heute keine Rolle mehr. Heute stehe ich zu mir und meinen Entscheidungen. Es ist mir viel wichtiger, die Öffentlichkeit wachzurütteln als der Gesellschaft zu gefallen. Denn, wie gesagt, vor den Betrügern ist niemand sicher.

Und wie behindert die Geschichte Ihren Alltag? Täglich erhält man ja Spam-Nachrichten oder muss Online-Zahlungen tätigen. Wie gehen Sie damit um?

Ich wollte nie, dass ich vor Angst und Missmut zerfressen werde. Natürlich bin ich viel achtsamer geworden. Dass mich aber nur noch das Misstrauen antreibt, und ich ganz verbissen bin, das ist nicht der Fall, weil es mich kaputt machen würde. Aber es ist tatsächlich so, dass die Gedanken der Vorsicht seither viel präsenter sind.

Sie haben vorher erzählt, dass einige Kontakte aufgrund der Webseite entstanden sind. Welche Menschen sind das?

Unsere Webseite funktioniert ähnlich wie bei anderen Selbsthilfegruppen. Wir mussten jedoch feststellen, dass wir fast nur direkt angeschrieben wurden. Die Betroffenen wollten mich persönlich kennenlernen, um sicher zu sein, dass ihnen ein Mensch aus Fleisch und Blut gegenüber sass. Es ist noch ein kleiner Kreis – der Erfolg ist aber mit jedem Einzelnen gestiegen, worüber ich sehr glücklich bin. Es hilft ungemein, über das Erlebte zu sprechen, und nicht alles in sich hineinzufressen. Die Scham ist nämlich das Schlimmste und hat oft gesundheitliche Schäden zur Folge. Eine der Geschädigte hat mein Buch beispielsweise ins Englische übersetzt, was eine Win-Win-Situation ist. Denn durch die Übersetzung des Buches geht es ihr deutlich besser, weil sie dadurch ihr Trauma zu einem grossen Teil verarbeiten konnte.

Sie sagen, dass Sie mit anderen Organisationen und Behörden kooperieren, um den Geschädigten Unterstützung und laufend aktuelle Informationen zu bieten.

Genau. Wir arbeiten über unsere Webseite mit Behörden wie der Schweizerischen Kriminalprävention oder einer global agierenden, gemeinnützigen Organisation mit Schweizer Hintergrund zusammen, welche Scam Geschädigte in der Nachforschung und Wiederherstellung von verlorenen Geldern unterstützt. Und hier gilt: Je schneller man reagiert, desto besser. Über unsere Plattform können Online-Betrugsgeschädigte mit diesen Experten in Kontakt treten. Die Erfolgsquote liegt derzeit bei zehn Prozent, was im ersten Moment bescheiden klingt. Aber im Hinblick auf die horrenden betrogenen Gelder in Milliardenhöhe kommt da doch einiges zusammen.

Welche Ziele verfolgen Sie zudem mit Ihrem Buch?

Ich möchte die Gesellschaft wachrütteln, weil die neuen Betrugsarten wie beispielsweise Online Betrug, Love Scam, Enkeltrick Betrug oder Schockanfrufe alle etwas angeht. Vor allem liegt mir am Herzen, die Geschädigten in ihrer Scham nicht alleine zu lassen sowie ihnen Trost und Mut zuzusprechen. Sie sollen nicht aufgeben, sondern ihr Selbstvertrauen und ihre Zuversicht wiederfinden. Denn verurteilt und bewertet werden sie ohnehin schon genug.

(Bild: Depositphotos/PD)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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