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Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

Sämtliche Erfolge von Martina Hingis aufzulisten, würde Bücher füllen. Und das haben andere schon erledigt. Im Rahmen einer Einladung des «Hotel Bären» in Gonten empfing die Tennislegende «Die Ostschweiz» zu einem Gespräch über ihr Leben nach dem Profisport und missverstandene Aspekte.

Marcel Baumgartner am 19. Juni 2022

Martin Hingis, im März haben Sie in Appenzell während einem Wochenende mit Amateurinnen und Amateuren Tennis gespielt. Wie ist es, als ehemalige Profispielerin plötzlich mit Laien auf dem Platz zu stehen?

Ich konnte in den vergangenen Jahren Erfahrungen mit Kleinkindern, Amateuren und Clubspielerinnen und -spielern sammeln. Auch habe ich natürlich viel von meiner Mutter gelernt, die lange als Tennislehrerin aktiv war und seit 15 Jahren eine eigene Tennishalle in Wollerau betreibt. Dort spiele ich rund drei Mal pro Woche und begleite die Junioren. Es bereitet mir grosse Freude, die nächste Generation zu fördern. Sowieso habe ich mich auf dem Tennisplatz immer am wohlsten gefühlt. Natürlich ist das Level heute in meiner Beraterfunktion deutlich anders als noch zu meiner aktiven Zeit. (lacht)

Wie schnell merken Sie, ob jemand über Fähigkeiten verfügt oder eben nicht?

Ein erstes Zeichen kann schon sein, wie das Gegenüber den Schläger in den Händen hält. Aber «geht nicht» gibt es nicht im Tennis. Mein Ziel ist es jeweils, das Maximum herauszuholen, Tipps zu geben. Bisher ist mir das meiner Ansicht nach nicht schlecht gelungen.

Spielt man heute anders Tennis als noch vor 20 Jahren?

Der Spitzensport ist physischer und das Feld jener, die Topleistungen erbringen, ist breiter geworden. Das hat auch mit den höheren Preisgeldern zu tun, die es ermöglichen, dass man ein grösseres Team um sich schart. Darunter gelitten hat in gewisser Weise die Konstanz. Nur selten kommt es vor, dass eine Spielerin über einen längeren Zeitraum das Feld anführt.

Was muss man darunter verstehen, dass es physischer geworden ist?

Die heutigen Spielerinnen können es sich nicht mehr leisten mit 70 oder 80% in ein Turnier zu starten. Es braucht von Beginn an 100% – körperlich und auch mental. Zum Start meiner Karriere konnte ich mir noch einen Fehlstart leisten. Es war im Anschluss möglich, das noch zu korrigieren. Heute ist das schwierig. Da kommt die Nummer 150 der Rangliste und gewinnt die US Open. Das wäre früher undenkbar gewesen. Spätestens im Viertel- oder Halbfinale wäre Schluss gewesen. Die gesetzten Favoritinnen waren dann einfach dankbar dafür, dass eine Aussenseiterin eine Mitfavoritin aus dem Turnier bugsiert hat.

Wie geht man mit dem Druck um?

Das ist ein entscheidender Punkt. Es ist wichtig, die Balance zu finden. Man muss sich daran gewöhnen, wie man mit Niederlagen aber insbesondere auch mit Siegen umgeht. Da kann man sich durchaus selber in die Quere kommen, wenn man plötzlich im positiven Sinne explodiert und abliefert. Plötzlich ist man umgeben von Sponsoren und Medien und zufrieden mit dem bisher Erreichten. Dabei muss man sich immer wieder vor Augen führen, dass die anderen nicht schlafen und nur auf den richtigen Moment warten. Ich kann zum Beispiel sehr gut nachvollziehen, dass Ashleigh Barty sich zurückgezogen hat.

Die Tennis-Weltranglistenerste. Mit nur 25 Jahren…

Ja. Sie ist immer mit einem gesunden Menschenverstand an die Sache herangegangen. Letztlich dann auch bei ihrem Entscheid, dem Profisport den Rücken zu kehren. Sie möchte mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen. Und sie hat ihre gesetzten Ziele erreicht. Wieso sich also noch weitere abquälen und andere Träume dafür opfern?

Von aussen betrachtet sieht man vor allem die Glamour-Welt.

Man vergisst aber, dass man dafür um die ganze Welt reist und auf vieles verzichten muss. Und man sieht in der Regel nur die Turniere und vergisst, was es erfordert, um in Form zu bleiben. Es benötigt enorm viel Herzblut und noch mehr Schweiss.

Wurden Sie zu Ihrer Zeit auch mental trainiert?

Meine Mutter war gleichzeitig auch meine Mentaltrainerin. Sie war also Trainerin, Mentaltrainerin, Freundin und Mutter in einer Person. Eine spezielle Kombination. Allerdings eine mit deutlich mehr Vor- als Nachteilen. Das wurde hier in der Schweiz damals durchaus auch kritisch beäugt und teilweise falsch gewertet. Ich war eine Jugendliche, mitten in der Pubertät und meine Mutter sah das Potenzial in mir, forderte Präzision – auch im Training. Damit hat sie mich perfekt auf die Turniere vorbereitet, in denen ich das Gelernte unter enormem Druck abrufen konnte. Das war das Entscheidende: in Stresssituationen das Maximum herauszuholen. Umso besser man vorbereitet ist, umso besser schneidet man ab. Das ist ja auch bei jeder Prüfung so. Das wurde in der Schweiz teilweise missverstanden, bringt der Profisport aber einfach mit sich. Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein: das musst du auf dem Platz haben, sonst wirst du gefressen. Wenn du ängstlich bist, bist du weg vom Fenster.

Hat Ihnen hier manchmal die Wertschätzung gefehlt?

Es ist in den Medien teilweise falsch dargestellt worden. Das fand ich schade. Und ich war damals in einem Sport, der in der Schweiz noch keinen grossen Stellenwert hatte, plötzlich an der Spitze – und das noch als Frau. Und ich verdiente damit auch noch Geld… Das löste wohl einen Wow-Effekt aus…

Nicht wenige Sportlerinnen und Sportler bekunden Mühe damit, die Phase der aktiven Karriere hinter sich zu lassen. Wie ist das bei Ihnen?

Es ist wohl wichtig, sich neue Ziele zu setzen, neue Träume zu verfolgen. Man muss aber auch realistisch sein: mit 42 Jahren nochmals eine neue Karriere zu starten, ist schwierig. Klar, es gibt Beispiele von Tennisspielerinnen, die in diesem Alter noch Anwältin geworden sind oder Medizin studiert haben.

Ich geniesse dagegen enorm die Zeit mit meiner Tochter, möchte sie auf das Leben vorbereiten und ihr eine gute Mutter sein. Und kein Job der Welt ist wohl so schwierig wie das Muttersein. Da freue ich mich jeweils, wenn ich von ihr zu hören bekomme, dass sie mich liebt. Dann weiss ich, dass ich wohl doch das eine oder andere richtig mache. Für mich ist Zeit, die ich mit meiner Tochter verbringen kann, ein Luxus. Und dank meiner Tenniskarriere kann ich mir diesen Luxus gönnen.

Das ist nun der mentale Teil. Wie ist es körperlich, wenn man praktisch von heute auf morgen «herunterfährt»?

Für mich war das eine Erleichterung. Klar, auch heute noch liebe ich es, mich sportlich zu betätigen. Liege ich drei Tage auf der faulen Haut, kommt der Drang hoch, mich körperlich zu betätigen. Allerdings muss ich nicht mehr ans Limit gehen.

Ihre Tochter Lia ist dreijährig. Spielt sie schon Tennis?

Im Moment kann man sie eher fürs Ponyreiten und fürs Skifahren begeistern. Aber ja, ich bringe ihr auch schon das Tennisspielen bei. Aber eine Dreijährige kann man zu nichts zwingen. Ich frage mich da hin und wieder, wie es meine Mutter bei mir geschafft hat, dass ich schon als Zweijährige täglich gespielt habe…

Schauen Sie sich hin und wieder alte Matches von sich an?

Zwischendurch, ja. Als Vorbereitung für deine Dokumentation habe ich mir einige Spiele angeschaut, weil ich gewisse Sachen schlicht nicht mehr im Kopf hatte. Die Highlights sind noch präsent, aber der Weg zu ihnen verblasst.

Treffen Sie auch ab und zu ehemalige Konkurrentinnen?

Während der Pandemie kam das zu kurz. Ansonsten trifft man sich natürlich an den grossen Turnieren. Aber dadurch, dass wir alle über die ganze Welt verstreut wohnen, ist es schwierig zu sagen «komm doch mal schnell auf einen Kaffee vorbei». Zu meiner Hochzeit kamen einige. Und Patty Schnyder habe ich kürzlich auf der Skipiste getroffen.

Sie sind in Trübach aufgewachsen. Was verbindet Sie heute noch mit der Ostschweiz?

Es ist jeweils ein «Heimkommen». Wenn ich hier in den Bergen bin, fühle ich mich Zuhause. Mindestens einmal pro Monat bin ich in Bad Ragaz, wo ich vor knapp zwei Jahren einen Stall für mein Pferd gebaut habe. Ein Traum, den ich mir verwirklicht hat und der mich nun regelmässig in die Gegend führt.

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Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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