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Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

Wenn Beatrice Weiss – genannt «Bella», auf Reisen geht, muss sie das Ganze äusserst akribisch vorbereiten. Seit ihrer Geburt leidet die 41-jährige Uzwilerin an der Stoffwechselerkrankung Mukopolysaccharidose. Betroffene haben etwa verformte Knochen, Organschäden und sind kleinwüchsig.

Marcel Baumgartner am 11. März 2024

Bella Weiss, es war nicht einfach, einen Termin zu finden. Ihr Kalender ist voll. Mehrheitlich mit Therapiesitzungen?

Nein, im Gegenteil. Ich lebe mit der Krankheit und nicht für sie. Würde ich für sie leben, wäre ich zweimal täglich in der Therapie. Meine Lebenserwartung liegt eigentlich bei 25 bis 30 Jahren. Ich bin jetzt 41-jährig und mache so ziemlich alles, was eine Person mit meiner Krankheit nicht machen sollte. Ich arbeite, ich reise liebend gerne, mache Hundesport und bin einfach sehr unternehmungslustig. Ich lebe richtig. Möglich ist das, weil ich «nur» dreimal wöchentlich in Therapie bin – und zwar hier bei mir zu Hause.

Wie geht man damit um, wenn man eine begrenzte Lebenserwartung hat?

Ich kenne nichts anderes, ich bin so aufgewachsen. Und ich mache das, was ich allen Gesunden auch rate: Lebe jetzt. Niemand von uns weiss, wann Schluss ist. Schon als Kind wurde mir klar: Wenn ich etwas will, muss ich es sofort machen und nicht hinausschieben. Das hatte auch Einfluss auf meine Berufswahl. Als Erstes musste ich schauen, was überhaupt möglich ist und daraus wählte ich die kürzeste Lehre. Ich hätte an die Kantonsschule gehen und studieren können, aber ich wollte nie einen Titel auf dem Grabstein. Ich wollte leben, erleben und die Welt sehen.

Und welche Lehre wurde es?

Das dreijährige KV. Im letzten Lehrjahr habe ich erfahren, dass die Klassenbeste eine Festanstellung auf sicher hat. Ich wusste, das ist meine Chance und diese habe ich gepackt. Seither arbeite ich bei der Helvetia und darf dieses Jahr das 25-Jahre-Jubiläum feiern.

Beatrice Weiss

(Bild: zVg.)

Sie sagen, dass Sie die Welt sehen wollen. Was war die abenteuerlichste Reise?

Mein Mann und ich reisen regelmässig. 2009 und 2012 waren wir unter anderem länger in den USA. Und 2017 erkundeten wir, während drei Monaten, den hohen Norden Europas. Solche Trips sind jeweils eine grosse Herausforderung. Ich muss medizinische Geräte mitschleppen, dafür sorgen, dass ich täglich zu meinen 18 Medikamenten komme und die Therapien organisieren. Das war nur möglich, indem ich alles rund neun Monate im Voraus plante. Ich stellte sicher, dass ich wöchentlich eine Therapie abhalten konnte und liess die Hälfte meiner Medikamente in den Norden liefern.

Das braucht extremes Vertrauen. Was könnte passieren, wenn Sie die Therapien nicht regelmässig machen würden?

Grundsätzlich könnte mein Mann Teile davon übernehmen. Er hat es sich angelernt. Aber eben nicht das volle Programm. Ohne dieses würde es zu Verkürzungen, Verspannungen, Wirbelblockaden bis hin zur Verschleimung der Lunge kommen und ich hätte extreme Schmerzen. Es könnte tödlich enden. Wir wussten also: Eine solche Reise ist ein Risiko.

Und trotzdem war für Sie klar: Das machen Sie jetzt.

Absolut. Man kann doch nicht immer nur ans Negative denken. So eine Reise hat unendliche Erinnerungen, die uns niemand nehmen kann.

Wenn Sie andere Menschen beobachten und sehen, welche Prioritäten sie teilweise setzen, schütteln Sie dann innerlich den Kopf?

Ja. Jene, die ihre Zeit hauptsächlich in die Karriere investieren, verlieren meiner Meinung nach den Blick für das Wesentliche und oftmals sind sie auch unzufrieden. Man will hoch hinaus, immer mehr und mehr… Dabei ist das wahre Glück die gemeinsame Zeit. Und jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich.

Um mein Selbstwertgefühl zu stärken, habe ich mir vorgenommen, jeden Abend zu überlegen, was habe ich heute gut gemacht, worauf bin ich stolz, wo möchte ich mich verbessern. Und ebenso, gönne ich mir einen Moment am Tag – nur für mich. Das können kleine Sachen sein, wie einen Espresso an der Sonne zu trinken. Und wissen Sie was? Das Gefühl zu einem selbst verändert sich innerhalb kürzester Zeit.

Beatrice Weiss

(Bild: zVg.)

Sie hatten nicht immer so ein gutes Selbstwertgefühl. Nun wirken Sie sehr positiv und optimistisch. Haderten oder hadern Sie dennoch bisweilen mit Ihrem Schicksal?

Ja, vorallem in der Pubertät. Meine Krankheit zerstört immer mehr von mir. Mit 12 Jahren entdeckte man einen Genickbruch und instabile Wirbel. Ich hatte deshalb schwere Operationen, bin ins Koma gefallen und habe gekämpft. Der Eingriff verlief leider nicht wie geplant und führte zu einer Lähmung unterhalb der Brust. Mit grösster Wahrscheinlichkeit könnte ich auch ohne diesen Fehlschlag heute nicht mehr laufen, aber ich hätte immerhin noch Gefühle im unteren Bereich. Im Rollstuhl zu sitzen, ist für mich in der Schweiz nicht schlimm. Das Schlimmste für mich ist, die Blasen- und Darmfunktion zu verlieren.

Wie geht man als Jugendliche damit um?

Nicht gut. Denn plötzlich stehst du mit dem Rollstuhl im Mittelpunkt, die Leute zeigen sogar mit dem Finger auf dich. Und man ist mitten in der Pubertät und fragt sich: Wohin mit dem Leben? Wer bin ich? Und nun auch das noch… Ich hatte einen Kampf, verlor meinen Lebenswillen. Irgendwann wollte ich so nicht weiterleben und suchte nach dem Weg. Einfach aufgeben, ohne versucht zu haben, das Glück im Leben zu finden? Ohne zu wissen, kann ich mir auch so ein glückliches Leben schaffen?

Was haben Sie gemacht?

Im zweiten Lehrjahr nahm ich all mein Geld und flog nach Miami. Alleine. Ich sass damals bereits im Rollstuhl. Meine Mutter war nervlich am Ende. Und ich war ebenso komplett überfordert mit meinem Leben. Aber ich flog, um mich selber zu testen. Schaffe ich das, oder nicht?

Und wie hart war es?

Hammergeil war es. Es war die beste Entscheidung in meinem Leben. Ich habe meine komplette Pubertät nachgeholt und richtig auf den Putz gehauen. Ich kam zurück nach Hause, mit dem Gedanken, ich kann es schaffen und das Leben ist einfach zu schön, um es zu verlieren.

Was hatte das für Konsequenzen?

Ich zog aus. Ich machte die Autoprüfung. Ich bestand die Lehre als Klassenbeste. Ich war in St.Gallen viel im Ausgang und bekannt wie ein bunter Hund. Dann kam mein Mann in mein Leben. Wir zogen 2004 zusammen und heirateten drei Jahre später. Ich nahm also nach der Reise nach Miami mein Leben in die Hand – und das tue ich noch heute.

Damit sind Sie vielen anderen voraus.

Ich habe deshalb auch schon viele Coachings gemacht. Mein Mann meint, ich sollte das beruflich machen, den Leuten etwas mitgeben. Ich empfinde es als sehr traurig, dass Menschen, die alle Möglichkeiten haben, so wenig daraus machen.

Sie sagten, früher hätten die Leute mit dem Finger auf Sie gezeigt. Hat sich das inzwischen verbessert? Ist die Gesellschaft toleranter geworden?

Das gibt es grosse Unterschiede zwischen den einzelnen Generationen. Es ist schon vorgekommen, dass mir eine ältere Person einen «Fünfliber» in die Hand gedrückt hat und meinte: «Durftest Du auch wieder mal raus?». Das sind Menschen, die noch erlebt haben, dass man jene, die nicht der Norm entsprechen, irgendwo ausserhalb des Dorfes versteckt hat.

Dann gibt es die Kinder von ihnen. Die sagen zu ihren eigenen Kindern jeweils: «Schau weg!». Allgemein wird aber von Generation zu Generation eine Offenheit spürbar. Die Generation Alpha ist bereits sehr offen und kontaktfreudig, dies finde ich super.

Beatrice Weiss

(Bild: zVg.)

Sind Sie religiös?

Ich glaube. Aber ich habe leider schlechte Erfahrungen gemacht.

Inwiefern?

Einerseits, weil mir Geistliche vor der riskanten Operation sagten, dass ich beten und beichten muss, dann wird schon alles gut kommen. Als Kind glaubt man daran. Und dann gab es diesen Vorfall, als ich nach zwei Jahren im Kinderspital wieder nach Hause durfte und den Gottesdienst besuchte.

Was ist passiert?

Als wir den Vorplatz der Kirche betraten, teilte sich die Masse wie das Meer bei Moses. Die Leute sind zur Seite geflohen. Niemand grüsste uns. Eine ältere Frau kam dann auf mich zu und sagte: «Mich würde schon interessieren, was Du falsch gemacht hast. So ungläubig bist Du doch nicht.»

Wie alt waren Sie damals?

Ich war 14 oder 15. Und ich bekam Schuldgefühle. Ich dachte wirklich, ich hätte etwas Falsches gemacht. Ich konnte diese Erlebnisse nicht einordnen und verdauen, seither gehe ich nie mehr in diese Kirchgemeinde.

Was löst ein solches Erlebnis aus?

Niemand war darauf vorbereitet und ich fühlte eine grosse Leere. Doch mit der Zeit füllte sich diese wieder mit meinem eigenen Glauben, den ich mir geschaffen habe.

Kommt aus auch heute noch zu ähnlichen Situationen? Haben Sie sich eine Mauer geschaffen?

Ja. Ohne einen solchen Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein. Was mich am meisten schmerzt, ist, dass man mir aufgrund meines Erscheinungsbildes nichts zutraut. Ich muss bei allen Sachen dreimal besser sein als andere. Das ist anstrengend. Leider kann ich meine Behinderung nicht wegschminken…

Ein Selbstschutz bewahrt also nicht vor weiteren Schmerzen?

Nicht immer, aber ich kann inzwischen besser damit umgehen. Es kommt immer auch darauf an, wer sich äussert.

Welche Träume haben Sie noch?

Ich habe viele Träume! Ich möchte noch viele Reisen mit meinem Mann und den Hunden erleben, spannende Agility-Anlässe besuchen und schöne Momente geniessen! Ohne Ziele hätte ich ja Zeit zum Sterben.

Beruflich reizt mich wieder das Sekretariat oder die rechte Hand von einem Chef zu werden. Ergänzend und als Ausgleich müsste aber Platz für Hundetraining sein. Es fehlt mir also nicht an Visionen.

Stölzle /  Brányik
Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Co-Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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