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Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

Ein rechtskonservatives Netzwerk bringt sein Gedankengut in die Gesellschaft ein; die Ostschweiz ist ein Hotspot. Es hat die Aufmerksamkeit des Nachrichtendienstes des Bundes geweckt.

Adrian Zeller am 24. Juni 2024

«Nachfolgeorganisationen oder Einzelpersonen aus dem VPM-Kreis fallen immer wieder durch ihre Beteiligung an politischen Diskussionen auf», hält die «Beratungsstelle Kirchen- Sekten- Religionen» auf ihrer Homepage fest. Sie schreiben Leserbriefe und wirken unter anderem in Ostschweizer Behörden und Parlamenten mit; sie haben allerdings ihr Etikett gewechselt, wohl aus taktischen Gründen. Dass der VPM vor über zwanzig Jahren aufgelöst wurde, sei eine rein strategische Massnahme gewesen, vermutete Sektenkenner Hugo Stamm in einem Interview.

Eine ganze Reihe Nachfolge-Organisationen haben sich im Umfeld des einst umstrittenen Vereins gebildet. Wikipedia listet über ein Dutzend Organisationen auf, die das entsprechende rechtskonservative Gedankengut auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene vertreten.

Bürgerrechte in Gefahr?

Ohne den in der Öffentlichkeit negativ besetzten Namen VPM, können entsprechend gesinnte Frauen und Männer leichter gesellschaftlichen Einfluss nehmen, ist Stamm überzeugt.

Ihr Ziel scheint primär die mutmassliche linke Unterwanderung der Gesellschaft sowie die Verhinderung der angeblichen Bevormundung des Volkes. Linke Ideen seien bis in die bürgerlichen Parteien salonfähig geworden, heisst es. Exponenten sagen, es gehe ihnen um die Wahrung der Bürgerrechte.

Beispielsweise traten einzelne ehemalige Mitglieder als Gegner der Corona-Schutzmassnahmen öffentlich auf. Die Volksinitiative «Volkssouveränität statt Behördenpropaganda» soll laut Medienberichten ebenfalls aus dieser Ecke lanciert worden sein. Auch die Volksinitiative zur Abschaffung des Antirassismus-Artikels in der Bundesverfassung wird diesen Kreisen zugeschrieben; sie scheiterte mit einem grossen Nein-Anteil. Auch gegen die Reform Armee XXI rührten VPM-Kreise die gegnerische Trommel, ebenso gegen die Einführung des Lehrplans 21.

Auch die Aufhebung von Sanktionen gegen kriegsführende Länder ist diesem Personenkreis wichtig, sie sieht die Schweizer Neutralität in Gefahr. Eine Annäherung an die EU soll ebenfalls verhindert werden. Da der Einsatz von digitalen Medien in den Schulen Kinder gezielt in die Abhängigkeit von IT-Konzernen bringe, machen sich Anhänger des Gedankenguts für deren Zurückdämmung stark.

Psychologische Beichte

Der 1986 gegründete «Verein für psychologische Menschenkenntnis (VPM)» hat seine Ursprünge beim aus dem heutigen Polen in die Schweiz geflüchteten Friedrich Liebling. Er lebte von 1893 bis 1982. Der im Selbststudium ausgebildete Psychologe gründete 1955 in Zürich eine psychologische Lehr- und Beratungsstelle.

Dabei setzte er vor allem auf Psychotherapie in Grossgruppen sowie auf Beratung in Lebensfragen und in Erziehung. Die Therapiesitzungen kamen einer Art Beichte vor Grosspublikum gleich, wird berichtet.

Auf dieser Basis entstand ein Netzwerk, die Liebling «Zürcher Schule» nannte. «Von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre war die grösste psychologische Bewegung der Schweiz mit zuletzt gut 3000 Anhängern im In- und Ausland», heisst es bei der «Beratungsstelle Kirchen- Sekten- Religionen», die von verschiedenen evangelischen Kantonalkirchen getragen wird. Auch in Deutschland und in Österreich waren Sympathisanten aktiv.

«Liebling und später der VPM waren davon überzeugt, über die allein richtige, befreiende wissenschaftliche und psychologische Menschenkenntnis zu verfügen», schreibt die «Beratungsstelle Kirchen- Sekten- Religionen».

Kritiker einschüchtern

Die umstrittenen Therapiemethoden sowie die dogmatische Haltung von Friedrich Liebling führte zu zahlreichen kritischen Medienberichten. Auf diese reagierte er mit juristischen Mitteln, mit denen er die Medienschaffenden einschüchtern wollte. Das Schlagwort einer «Psychosekte» kursierte. Das Landgericht Bonn bestätigte die Zulässigkeit des Begriffs «Psychokult» für diese Bewegung.

Auch der Berufsverband Deutscher Psychologen nannte den späteren VPM einen «Psychokult». Er versuche bei Behörden, in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit den Eindruck einer psychologisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaft zu erwecken. Er bemühe sich den Anschein einer karitativen Organisation zu geben, die Menschen in persönlichen Nöten psychologischen Rat und mit psychotherapeutischen Behandlung Hilfe zu leisten. Diese Behandlungen entbehrten jedoch jeglicher fachlichen Basis. Kritiker sehen den VPM als weltanschauliche Bewegung, nicht als Expertenvereinigung.

Liebling wird als Person mit grosser Suggestivkraft beschrieben. Interne und externe Zweifel und Beanstandungen wurden von ihm möglichst unterbunden. Feindselige Reaktionen auf jegliche Kritik waren später ein Charakteristikum des VPM. Der ehemalige Tages Anzeiger-Redaktor und heutige Watson-Journalist Hugo Stamm wurde gemäss eigenen Angaben von ihm dreizehn Mal angezeigt.

Ostschweizerin wurde Nachfolgerin

Nach dem Tod Gründers im Jahr 1982 kam es zu internen Kontroversen über die künftige Ausrichtung der Bewegung. Eine Gruppe um die Ostschweizerin Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser setzte sich schliesslich durch. Die Historikerin und Psychologin gründete den oben erwähnten «Verein zur Förderung psychologischer Menschenkenntnis (VPM).»

Der VPM selber beschrieb sich in seinen aktiven Zeiten als «psychologisch-pädagogisch orientierten, interdisziplinären Fachverein, in dem sich Ärzte, Pädagogen, Psychologen, Philosophen, Theologen, Juristen, Eltern und an psychologisch-pädagogischen Fragen Interessierte vieler Berufe zusammengeschlossen haben.»

Aushebelung von gesellschaftlichen Werten

Die Organisation vollzog damals ein ideologisches Wendemanöver: Während Liebling linkssozialistische Ideale propagierte, setzte die neue Leitung auf rechtsbürgerliche konservative Positionen. «Sie begann vor der linken Unterwanderung des Erziehungswesens und der Gesundheitspolitik zu warnen, schreibt die «Beratungsstelle Kirchen- Sekten- Religionen». Gemeint war etwa das damalige Aufkommen einer liberalen Drogenpolitik, in der Buchholz-Kaiser und ihre Mitstreitenden eine linke Politik zur Destabilisierung der Gesellschaft zu erkennen glaubten.

VM

Auch in der damaligen Schulentwicklung sah der VPM eine von linken Kräften gesteuerten Abbau der Qualität der Bildung sowie der Lernhaltung der Kinder. Im Weiteren deutete der VPM die HIV/AIDS-Aufklärung als linke Strategie zur Umwertung gesellschaftlicher Normen. So würden etwa homosexuelle Interessengruppen ihre Vorstellungen von Sexualität, Familie und Beziehungen der Gesellschaft aufzwingen wollen.

Konflikte mit Eltern

Die Tätigkeit der Gemeinschaft blieb dauerhaft umstritten. Beispielsweise wurden im Raum Zürich zwischen 1990 und 1992 fünfzig Konfliktfällen mit missionarischen Lehrpersonen mit VPM-Hintergrund registriert. Eltern organisierten einen Schulstreik gegen entsprechende Pädagogen. Sie würden die Schulkinder indoktrinieren, lautete der Vorwurf.

In den 1990er Jahren wurde vor allem in der Region Zürich eine Prozesslawine gegen Kritisierende des VPM angestrengt. Vor Gericht unterlag der Verein in den meisten Fällen. In Deutschland kam es zu über hundert Gerichtsverfahren.

Rückkehr in die Ostschweiz

2003 kehrte Annemarie Buchholz-Kaiser nach Dussnang zurück, dort war sie aufgewachsen. Es sei eine Flucht aus dem links unterwanderten Zürich gewesen, interpretiert Stamm den damaligen Schritt. Mit ihr liess sich eine ganze Reihe von Anhängerinnen und Anhängern in der Region nieder.

VM

Sie hätten bei ihr eine ideologische Heimat gefunden, sagte Hugo Stamm. «Sie bezahlten es aber mit dem Verlust der persönlichen Freiheit und der geistigen Unabhängigkeit.» Die Indoktrination durch Buchholz-Kaiser führte oft zu einem intoleranten Verhalten; Anhängern der VPM-Perspektive wird ein striktes Schwarz-Weiss-Denken nachgesagt. Ausgestiegene brauchten gemäss Stamm Jahre, bis sie sich wieder in der Gesellschaft zurecht fanden. Buchholz-Kaiser starb 2014.

Die Präsenz von VPM-Sympathisanten machte sich vor rund zehn Jahren im Hinterthurgau bemerkbar: Mit gehässigen anonymen Flugblättern und heftiger Kritik wurde eine Schulpräsidentin ins Visier genommen. Daran beteiligt war die VPM-nahe «Arbeitsgruppe Schulfreunde». Damals war der «Verein zur Förderung psychologischer Menschenkenntnis» offiziell bereits Geschichte; im März 2002 hatte der VPM überraschend seine Auflösung bekannt gegeben.

Wie erwähnt wertete Stamm die Vereinsauflösung als strategischen Schachzug. Der durch zahlreiche Kontroversen und Medienberichte kontaminierte Name sollte aus der Schusslinie genommen. Anhänger der entsprechenden Denkweise seien so weniger fassbar geworden, glaubt Stamm.

Zweifelhafte Plattform

Das entsprechende Gedankengut werde gemäss Stamm vermehrt über VPM-nahe Organisationen in die Gesellschaft eingebracht. Eine solche Erfahrung machte beispielweise die Redaktion des «Deutschen Ärzteblatt». Sie erhielt einen Aufsatz von einem «Arbeitskreis Studiengestaltung», der sich kritisch-konservativ mit einer Studienreform beschäftigte. Zwei der drei Professoren, die den Artikel unterzeichnet hatten, distanzieren sich von der Publikation, als sie vom ihnen bisher nicht bekannten VPM-Hintergrund erfuhren.

Auf Verschleierung setzen Personen aus dem VPM-Milieu bis heute. Kürzlich erschien in einem Ostschweizer Gratis-Anzeiger ein Inserat mit einem kommerziellen Angebot für Nachhilfestunden für Kinder und Jugendliche. Die Annonce enthält die Anschrift eines Instituts im Hinterthurgau, das die «Beratungsstelle Kirchen- Sekten- Religionen» mit VPM-nahen Personen in Verbindung bringt.

Auf der Homepage dieses Instituts mit wissenschaftlichem Anspruch wird auf die in Bazenheid erscheinende Publikation «Zeit-fragen» als befreundete Organisation verwiesen. Diese gilt als Sprachrohr von VPM-Kreisen. Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) wertet sie als Plattform zur Desinformation und für putin-freundliche Beiträge.

(Bilder: Symbolbilder)

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Adrian Zeller

Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.

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