logo

Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

Michel Sutter wuchs als Kind von suchtkranken Eltern auf. Anlässlich der Aktionswoche, bei der sich auch die Beratungsstelle für Suchtfragen AR beteiligt, möchte er auf sein Schicksal aufmerksam machen, um anderen zu helfen.

Manuela Bruhin am 12. März 2024

Schockierend. Berührend. Zum Nachdenken anregend. Erzählt Michel Sutter, der heute 50 Jahre alt und beruflich viel in der Ostschweiz unterwegs ist, seine Geschichte, rüttelt sie auf. Und genau das soll auch das Ziel sein. Denn: Als Kind von suchtkranken Eltern aufzuwachsen, fordert auch die weitere Familie, das Umfeld, die Schule, extrem und immer wieder aufs Neue.

Schockierende Geschichte

Michel Sutter hat in seinen jungen Jahren nie die Unterstützung erhalten, die eigentlich nötig gewesen wäre, um sein Schicksal ausreichend meistern zu können. Stattdessen geriet auch er in die Tiefen der Sucht, durchlebte dunkle Zeiten – und sah dem Abgrund mehr als nur einmal entgegen. «Am meisten hat mir eine verlässliche Ansprechperson gefehlt, die mir aufgezeigt hat: Nein, es ist nicht richtig, was du zuhause erlebst», sagt er im Gespräch mit «Die Ostschweiz».

Solche Aktionswochen, wie sie beispielsweise derzeit auch von der Beratungsstelle für Suchtfragen AR unterstützt werden, findet er zwar «nur einen Tropfen auf den heissen Stein». «Dennoch sind sie wichtig, um die Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen. Wenn ich meine Geschichte erzähle, bin ich immer wieder überrascht, wie schockiert teilweise auch Fachleute darauf reagieren.»

Suizid oder Familientragödie?

Eigentlich kein Wunder. Auch wenn Michel Sutter mittlerweile mit seiner Kindheit und auch den Eltern ausgesöhnt ist – man kann nur ansatzweise nachempfinden, wie schlimm und herausfordernd die Jahre für ihn sein mussten. Da war sein Vater, vom Alkohol abhängig, der sein Sturmgewehr im Keller lagerte. «Ich hatte grosse Angst, weil es eine tickende Zeitbombe darstellte. Ich wusste, irgendwann passiert etwas Schlimmes. Nur: Wird es ‘bloss’ ein Suizid? Oder richtet er damit gleich ein Familienblutbad an?»

Eine Frage, die sich schliesslich klärte, als Michel Sutter 21 Jahre alt war. Sein Vater beendete sein Leben mit besagtem Sturmgewehr. Zurück blieb seine Mutter, die jedoch selber an einer bipolaren Störung leidet. Sutter erinnert sich an ein permanentes Wechselbad der Gefühle, welchem er ausgesetzt war. Seine Mutter erkor ihn als einzige Vertrauensperson aus. Ihn, der gerade einmal wenige Jahre jung war, eigentlich mit Legos spielen, draussen herumtoben sollte. Vielmehr wurde er jedoch mit Anliegen und Problemen konfrontiert, die keinesfalls für ein Kind oder einen Jugendlichen bestimmt sind.

Mit Mutter versöhnt

Dann folgten wiederum Phasen, in welchen Sutter für alles verantwortlich gemacht wurde, was innerhalb der Familie schief lief. «Ich war also so oder so ständig der Mittelpunkt der Familie. Einerseits wurde ich dadurch sehr schnell erwachsen, konnte andererseits aber überhaupt nicht damit umgehen.»

Heute ist seine Mutter 74 Jahre alt und lebt im Pflegeheim. Eine Art Demenz hat sie die Vergangenheit vergessen lassen – bei ihrem Sohn sind die Bilder jedoch immer noch im Kopf. Er erinnert sich an seine Kindheit, an seine Jugend. Dennoch habe er sich mit seiner Mutter ausgesöhnt.

Einbrüche – aber liebgemeinte

Als Michel Sutter 14 Jahre alt war, wurde der Druck schliesslich so gross, dass er zum ersten Mal zur Flasche griff. An der Fasnacht war es ein Bier, welches den Stein ins Rollen brachte. Und eine Lawine lostrat. Das Gefühl der Machtlosigkeit konnte er damit zwar kurzzeitig unterdrücken – das Unheil nahm jedoch seinen Lauf. Beim Alkohol blieb es nicht, statt dessen legte er eine umfangreiche Suchtkarriere hin: Cannabis, Kokain und Heroin wurden seine ständigen Begleiter. Mehrere Male versuchte Sutter, sich davon zu befreien. Vorerst jedoch vergeblich. Um seine Sucht finanzieren zu können, fing er kriminelle Machenschaften an.

«Ich wollte jedoch ein ‘netter Einbrecher’ sein», so Sutter im Gespräch und lacht. «Deshalb stieg ich nie in private Wohnungen oder Häuser ein, sondern nur in Bürogebäude.» Es folgten mehrere Haftstrafen, Sutter befand sich am absoluten Tiefpunkt seines Lebens. Für den «goldigen Schuss» wollte er sich Geld zusammen klauen, doch auch bei diesem Einbruch ging es schief.

Als er vor der Haftrichterin sass – die seinetwegen Samstag morgens früh aus dem Bett geklingelt wurde – machte es plötzlich ‘Klick’. «Die Frau brachte mir echtes Mitgefühl entgegen. Das kannte ich bis dahin nicht. Der Moment machte etwas mit mir, und ich habe mir fest vorgenommen, es jetzt anzupacken», so Sutter. Und wirklich: Was vorher etliche Male scheiterte, klappte nun. Bis zum heutigen Tag wurde Sutter seit 13 Jahren nicht mehr rückfällig.

Geschichte blieb unentdeckt

Weshalb hat sich Sutter dafür entschieden, seine Schicksalsschläge öffentlich zu machen? «Was mir während meiner Kindheit enorm fehlte, war eine Vertrauensperson, an die ich mich wenden konnte», sagt er. Weil seine Familie eben keine randständige war, in einem Haus wohnte, berufstätig und sozial nicht auffällig war, konnte und wollte es beispielsweise keine Lehrperson wahrhaben, dass innerhalb der Familie etwas gewaltig schief lief.

Die wiederholten Suizidversuche der Eltern blieben ebenso unentdeckt wie ihre Suchterkrankung. Einmal, als es ihm besonders schlecht ging, so erinnert sich Sutter, wendete er sich an einen jungen Seelsorger der Kirche. «Er war mit meinen Erzählungen jedoch völlig überfordert und hat mir lediglich alles Gute gewünscht. Deshalb ist es so wichtig, dass Berufsgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, auf solche Situationen geschult werden. Dass sie die Anzeichen erkennen», so Sutter.

Ein Schluck mit Folgen

Nun erhält Sutter selber die Möglichkeit, das zu sagen, was er schon während seiner Kindheit gern gesagt hätte. Und das sind keine Vorwürfe, sondern er möchte anderen Betroffenen Mut machen, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind.

Der Weg ist auch heute im Erwachsenenalter kein einfacher. In vielen Situationen macht sich seine Kindheit bemerkbar. An feierlichen Anlässen beispielsweise, wenn er auf das Anstossen mit Alkohol verzichtet. Dies, weil er Alkohol als Genussmittel und zum Feiern nicht mehr braucht. «Eine grosse Freiheit, wie ich finde, wenn ich mir den gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol anschaue», sagt er. Einzig beim Essen macht er übrigens eine Ausnahme, und bereitet beispielsweise ein Fondue mit Alkohol zu. «Das Rauchen habe ich einige Male ausprobiert, weil ich nicht ‘zu anständig’ sein wollte.» Bei diesen Ausführungen lacht er. «Aber mir wird davon sofort schlecht, also habe ich es gelassen.»

Eine weitere Änderung hat das Leben von Sutter ganz schön auf den Kopf gestellt. Der 50-Jährige ist kürzlich Vater einer kleinen Tochter geworden. «Wenn Sie mir das vor einem Jahr gesagt hätten, hätte ich es für unmöglich gehalten», sagt er. Doch die zweijährige Beziehung wurde mit seinem Kind komplettiert.

Für die Beziehung sei ein Kind herausfordernd – er merke, dass alte Mechanismen losgelöst werden können. «Wenn ich beispielsweise durch das Baby zu wenig schlafen konnte oder ich Hunger habe, merke ich, wie ich schneller die Geduld verliere», so Sutter. Er nehme es jedoch zum Anlass, an sich arbeiten zu können. Sich weiterzuentwickeln. Und die Erkenntnis helfe ihm dabei: Zu wissen, dass er schon mit ganz anderen Situationen im Leben fertig geworden ist.

(Bild: Depositphotos/PD)

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.