Michel Sutter wuchs als Kind von suchtkranken Eltern auf. Anlässlich der Aktionswoche, bei der sich auch die Beratungsstelle für Suchtfragen AR beteiligt, möchte er auf sein Schicksal aufmerksam machen, um anderen zu helfen.
Schockierend. Berührend. Zum Nachdenken anregend. Erzählt Michel Sutter, der heute 50 Jahre alt und beruflich viel in der Ostschweiz unterwegs ist, seine Geschichte, rüttelt sie auf. Und genau das soll auch das Ziel sein. Denn: Als Kind von suchtkranken Eltern aufzuwachsen, fordert auch die weitere Familie, das Umfeld, die Schule, extrem und immer wieder aufs Neue.
Schockierende Geschichte
Michel Sutter hat in seinen jungen Jahren nie die Unterstützung erhalten, die eigentlich nötig gewesen wäre, um sein Schicksal ausreichend meistern zu können. Stattdessen geriet auch er in die Tiefen der Sucht, durchlebte dunkle Zeiten – und sah dem Abgrund mehr als nur einmal entgegen. «Am meisten hat mir eine verlässliche Ansprechperson gefehlt, die mir aufgezeigt hat: Nein, es ist nicht richtig, was du zuhause erlebst», sagt er im Gespräch mit «Die Ostschweiz».
Solche Aktionswochen, wie sie beispielsweise derzeit auch von der Beratungsstelle für Suchtfragen AR unterstützt werden, findet er zwar «nur einen Tropfen auf den heissen Stein». «Dennoch sind sie wichtig, um die Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen. Wenn ich meine Geschichte erzähle, bin ich immer wieder überrascht, wie schockiert teilweise auch Fachleute darauf reagieren.»
Suizid oder Familientragödie?
Eigentlich kein Wunder. Auch wenn Michel Sutter mittlerweile mit seiner Kindheit und auch den Eltern ausgesöhnt ist – man kann nur ansatzweise nachempfinden, wie schlimm und herausfordernd die Jahre für ihn sein mussten. Da war sein Vater, vom Alkohol abhängig, der sein Sturmgewehr im Keller lagerte. «Ich hatte grosse Angst, weil es eine tickende Zeitbombe darstellte. Ich wusste, irgendwann passiert etwas Schlimmes. Nur: Wird es ‘bloss’ ein Suizid? Oder richtet er damit gleich ein Familienblutbad an?»
Eine Frage, die sich schliesslich klärte, als Michel Sutter 21 Jahre alt war. Sein Vater beendete sein Leben mit besagtem Sturmgewehr. Zurück blieb seine Mutter, die jedoch selber an einer bipolaren Störung leidet. Sutter erinnert sich an ein permanentes Wechselbad der Gefühle, welchem er ausgesetzt war. Seine Mutter erkor ihn als einzige Vertrauensperson aus. Ihn, der gerade einmal wenige Jahre jung war, eigentlich mit Legos spielen, draussen herumtoben sollte. Vielmehr wurde er jedoch mit Anliegen und Problemen konfrontiert, die keinesfalls für ein Kind oder einen Jugendlichen bestimmt sind.
Mit Mutter versöhnt
Dann folgten wiederum Phasen, in welchen Sutter für alles verantwortlich gemacht wurde, was innerhalb der Familie schief lief. «Ich war also so oder so ständig der Mittelpunkt der Familie. Einerseits wurde ich dadurch sehr schnell erwachsen, konnte andererseits aber überhaupt nicht damit umgehen.»
Heute ist seine Mutter 74 Jahre alt und lebt im Pflegeheim. Eine Art Demenz hat sie die Vergangenheit vergessen lassen – bei ihrem Sohn sind die Bilder jedoch immer noch im Kopf. Er erinnert sich an seine Kindheit, an seine Jugend. Dennoch habe er sich mit seiner Mutter ausgesöhnt.
Einbrüche – aber liebgemeinte
Als Michel Sutter 14 Jahre alt war, wurde der Druck schliesslich so gross, dass er zum ersten Mal zur Flasche griff. An der Fasnacht war es ein Bier, welches den Stein ins Rollen brachte. Und eine Lawine lostrat. Das Gefühl der Machtlosigkeit konnte er damit zwar kurzzeitig unterdrücken – das Unheil nahm jedoch seinen Lauf. Beim Alkohol blieb es nicht, statt dessen legte er eine umfangreiche Suchtkarriere hin: Cannabis, Kokain und Heroin wurden seine ständigen Begleiter. Mehrere Male versuchte Sutter, sich davon zu befreien. Vorerst jedoch vergeblich. Um seine Sucht finanzieren zu können, fing er kriminelle Machenschaften an.
«Ich wollte jedoch ein ‘netter Einbrecher’ sein», so Sutter im Gespräch und lacht. «Deshalb stieg ich nie in private Wohnungen oder Häuser ein, sondern nur in Bürogebäude.» Es folgten mehrere Haftstrafen, Sutter befand sich am absoluten Tiefpunkt seines Lebens. Für den «goldigen Schuss» wollte er sich Geld zusammen klauen, doch auch bei diesem Einbruch ging es schief.
Als er vor der Haftrichterin sass – die seinetwegen Samstag morgens früh aus dem Bett geklingelt wurde – machte es plötzlich ‘Klick’. «Die Frau brachte mir echtes Mitgefühl entgegen. Das kannte ich bis dahin nicht. Der Moment machte etwas mit mir, und ich habe mir fest vorgenommen, es jetzt anzupacken», so Sutter. Und wirklich: Was vorher etliche Male scheiterte, klappte nun. Bis zum heutigen Tag wurde Sutter seit 13 Jahren nicht mehr rückfällig.
Geschichte blieb unentdeckt
Weshalb hat sich Sutter dafür entschieden, seine Schicksalsschläge öffentlich zu machen? «Was mir während meiner Kindheit enorm fehlte, war eine Vertrauensperson, an die ich mich wenden konnte», sagt er. Weil seine Familie eben keine randständige war, in einem Haus wohnte, berufstätig und sozial nicht auffällig war, konnte und wollte es beispielsweise keine Lehrperson wahrhaben, dass innerhalb der Familie etwas gewaltig schief lief.
Die wiederholten Suizidversuche der Eltern blieben ebenso unentdeckt wie ihre Suchterkrankung. Einmal, als es ihm besonders schlecht ging, so erinnert sich Sutter, wendete er sich an einen jungen Seelsorger der Kirche. «Er war mit meinen Erzählungen jedoch völlig überfordert und hat mir lediglich alles Gute gewünscht. Deshalb ist es so wichtig, dass Berufsgruppen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, auf solche Situationen geschult werden. Dass sie die Anzeichen erkennen», so Sutter.
Ein Schluck mit Folgen
Nun erhält Sutter selber die Möglichkeit, das zu sagen, was er schon während seiner Kindheit gern gesagt hätte. Und das sind keine Vorwürfe, sondern er möchte anderen Betroffenen Mut machen, dass sie nicht alleine mit ihren Problemen sind.
Der Weg ist auch heute im Erwachsenenalter kein einfacher. In vielen Situationen macht sich seine Kindheit bemerkbar. An feierlichen Anlässen beispielsweise, wenn er auf das Anstossen mit Alkohol verzichtet. Dies, weil er Alkohol als Genussmittel und zum Feiern nicht mehr braucht. «Eine grosse Freiheit, wie ich finde, wenn ich mir den gesellschaftlichen Umgang mit Alkohol anschaue», sagt er. Einzig beim Essen macht er übrigens eine Ausnahme, und bereitet beispielsweise ein Fondue mit Alkohol zu. «Das Rauchen habe ich einige Male ausprobiert, weil ich nicht ‘zu anständig’ sein wollte.» Bei diesen Ausführungen lacht er. «Aber mir wird davon sofort schlecht, also habe ich es gelassen.»
Eine weitere Änderung hat das Leben von Sutter ganz schön auf den Kopf gestellt. Der 50-Jährige ist kürzlich Vater einer kleinen Tochter geworden. «Wenn Sie mir das vor einem Jahr gesagt hätten, hätte ich es für unmöglich gehalten», sagt er. Doch die zweijährige Beziehung wurde mit seinem Kind komplettiert.
Für die Beziehung sei ein Kind herausfordernd – er merke, dass alte Mechanismen losgelöst werden können. «Wenn ich beispielsweise durch das Baby zu wenig schlafen konnte oder ich Hunger habe, merke ich, wie ich schneller die Geduld verliere», so Sutter. Er nehme es jedoch zum Anlass, an sich arbeiten zu können. Sich weiterzuentwickeln. Und die Erkenntnis helfe ihm dabei: Zu wissen, dass er schon mit ganz anderen Situationen im Leben fertig geworden ist.
(Bild: Depositphotos/PD)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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