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Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

SP-Regierungsrat Fredy Fässler hat am 31. Mai seinen letzten offiziellen Arbeitstag. Am 1. Mai verabschiedet er sich im Kantonsrat. Ein Gespräch über seinen Gesundheitszustand, das Verhältnis zur Polizei und eine Aufgabe, die ihn schon im Juni beschäftigen wird.

Marcel Baumgartner am 01. Mai 2024

Regierungsrat Fredy Fässler ist seit 1. Juni 2012 Mitglied der Regierung und führte seither das Sicherheits- und Justizdepartement. Im Oktober 2022 erlitt er bei einem schweren Sturz zu Hause ein Schädel-Hirn-Trauma, von dem er sich bis im Frühjahr 2023 dank intensiver Therapien und Rehabilitation gut erholte. Ab Mitte März 2023 übernahm er wieder die Leitung des Sicherheits- und Justizdepartementes und ab 1. Mai 2023 das Regierungspräsidium für den verbleibenden Monat.

Ende Mai 2023 ereignete sich ein epileptischer Anfall, der Fredy Fässler in seinem Genesungsprozess wieder zurückwarf. Die weitere gesundheitliche Entwicklung von Fredy Fässler verlief leider nicht wie erhofft. Ein leichter Sturz auf dem Weg ins Büro am 28. November blieb zwar komplikationslos, führte den Regierungsrat jedoch zum Entschluss, seine Amtsgeschäfte in Regierung und Departement mit sofortiger Wirkung niederzulegen.

Fredy Fässler ist ein Vollblutpolitiker und war 12 Jahre Mitglied der Regierung. Zuvor war er 20 Jahre Mitglied des Kantonsrates und auch Fraktionspräsident der SP. Fredy Fässler war zweimal Regierungspräsident, nämlich 2017/18 und 2022/2023.


Fredy Fässler, wie geht es Ihnen?

Es geht mir gut, danke. Ich bin zufrieden. Ich habe keine Beschwerden und auch keine Schmerzen. Ich bin etwas langsamer. Und es gibt gewisse Situationen, in denen ich verunsichert bin – etwa beim Gehen in der Dunkelheit oder auf Treppen. Sonst fühle ich mich fit und hoffe, dass das so bleibt, was ja gerade in der Pensionierung eine grosse Bedeutung hat. Aber es wäre schön, würden diese Verunsicherungen irgendwann wieder verschwinden.

Sie sind eine öffentliche Person. Fällt es Ihnen schwer, über die gesundheitlichen Vorfälle und Ihren aktuellen Zustand zu sprechen?

Anfangs war das so, ja. Es hat mir dann aber gutgetan, die Unterstützung von so vielen Leuten – auch von solchen, die ich nicht kenne – zu erfahren. Man hat mich auf der Strasse angesprochen und mir gute Besserung gewünscht. Und ich habe Briefe und Karten aus der ganzen Schweiz erhalten. Diese immense Solidarität hat mich sehr überrascht. Ich kam mit vielen Menschen ins Gespräch, die etwas Ähnliches erlebt hatten und mir gewisse Befürchtungen nahmen. Mir wurde klar, dass man ansonsten halt einfach nicht über diese Dinge spricht. Es war schön, dass sich die Öffentlichkeit auch auf dieser Ebene für mich interessiert. Offen gestanden hatte ich zu Beginn die Befürchtung, dass das Ganze politisch ausgeschlachtet wird.

Im Sinne von?

Im Sinne von: «Er soll doch nun endlich aufhören.» Aber das ist nicht passiert, kein einziges Mal.

Wir können hier also auf der Politbühne kämpfen, wenn es persönlich wird, herrscht aber Anstand…

Ja. Es ist eine Zurückhaltung spürbar. Gerade dann, wenn das Gegenüber merkt, dass jetzt nicht der Zeitpunkt ist, auf einer Person herumzuhacken. Ich habe die Politikerinnen und Politiker als sehr empathisch empfunden. Das war früher auch schon anders (lacht).

Sie sind 65. Wie schwer fällt Ihnen der Abschied von der Politbühne?

Die Frage nach einer erneuten Kandidatur hat sich bei mir aufgrund der Vorfälle schon früh gestellt. Und ich haderte wirklich lange mit einem Entscheid. In der Reha in Walzenhausen habe ich nächtelang darüber nachgedacht. Mir fiel dabei etwas auf, das mir vorher nicht so bewusst war.

Und zwar?

Welche immense Bedeutung für mich die Arbeit und die Politik haben. Sie sind Teile meiner Person und meiner Identität. Und sie fehlten mir während der Zeit, die ich in der Klinik verbringen musste, sehr. Es fiel mir also lange Zeit schwer, einen Entschluss zu fassen. Letztlich war es aber ein klarer. Und einer, den ich wohl auch ohne die gesundheitlichen Probleme so gefällt hätte. Ich bin 32 Jahre politisch tätig gewesen und nun im Pensionsalter. Nun sollen andere ans Werk.

Haben Sie Bedenken, dass Ihnen etwas Massgebliches fehlen wird? Oder gibt es schon Pläne für die Zukunft?

Ich hoffe, dass ich nicht zum Leserbriefschreiber mutiere, der alles besser weiss und ständig an die alten Zeiten erinnern will (lacht). Ob mir das gelingt, sehen wir dann in einem Jahr. Ich bin überzeugt, irgendetwas werde ich bestimmt wieder in Angriff nehmen. Noch habe ich aber keine Absichtserklärungen unterzeichnet oder Zusicherungen gemacht. Ich möchte zuerst erfahren, was die Pension mit mir macht. Es gab Anfragen, ob ich wieder als Anwalt in einer Kanzlei tätig sein möchte. Das ist für mich aber aktuell kein Thema. Ich könnte mir im Moment einzig vorstellen, bei der SP 60+ tätig zu werden. Da geht es in erster Linie um den Austausch oder darum, die Partei bei Unterschriftensammlungen zu unterstützen.

Sie stürzen sich am 1. Juni also nicht bereits auf die nächsten Aufgaben?

Nein. Ausser auf eine. Unsere ältere Tochter erwartet im Mai ihr Kind. Ich werde also bald zum ersten Mal Grossvater. Darauf freue ich mich sehr. Und meine Frau und ich wollen unsere Tochter natürlich so gut es geht unterstützen.

Herzliche Gratulation schon jetzt. Blicken wir auf Ihre Tätigkeit als Regierungsrat zurück. Ins Gremium gewählt wurden Sie 2012 und wirkten seit jeher im Sicherheits- und Justizdepartement (SJD). Stand ein Wechsel des Departements niemals zur Debatte? Man kann es ja nicht gerade als Lieblingsdepartement der SP bezeichnen …

Ja, damit liegen Sie wohl – gerade mit Blick auf andere Kantone – richtig. 2012 lag der Fokus in erster Linie auf den beiden freien Departemente Inneres und eben SJD. Beide haben ihren Reiz. Ich als Anwalt hatte aber bereits früher mit fast allen Ämtern des SJD zu tun und kannte die meisten Leute. Und letztlich ist es sicherlich kein Nachteil, wenn man im SJD juristische Kompetenzen mitbringt. Insofern dauerte die damalige Diskussion rund um die Departementsverteilung nicht lange. Und für mich stellte sich die Frage nach einem Wechsel auch vier Jahre später nicht. Ich hatte mich eingelebt und wollte die laufenden Projekte fortführen.

In die erste Amtsdauer fiel auch die Zeit der grösseren Flüchtlingsbewegung über die Balkanroute…

Ja, das war eine herausfordernde Zeit. Der grösste Teil der Asylsuchenden kam über ebendiese Balkanroute nach Europa. Und die Route endete in Buchs. Wir wollten dort keine Zustände wie beispielsweise am Bahnhof München oder in Wien. Das waren entwürdigende Bilder. Es lag also an uns, diese Menschen auch menschenwürdig zu betreuen und die Sicherheit zu gewährleisten. Erfreulicherweise waren die Gemeinden im Kanton St.Gallen sehr kooperativ. Alle wussten, dass wir eine Verantwortung tragen und die Aufgabe nur gemeinsam lösen können.

Fanden Sie Ihre Arbeit als Regierungsrat immer bereichernd?

Ja. Und auch jene als Präsident der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren KKJPD, die zwar zusätzliche Aufgaben mit sich brachte, bei der ich aber etwas bewirken konnte. Mir haben die Tätigkeiten effektiv Spass gemacht und ich bin jeden Morgen gerne zur Arbeit gegangen. Das lag sicherlich auch an den motivierten und engagierten Amtsleiterinnen und -leitern, die ich hatte. Auch an die wöchentlichen Regierungsratssitzungen bin ich gerne gegangen. Wir hatten im Grossen und Ganzen eine lösungsorientierte und kollegiale Zusammenarbeit. Natürlich mit zwischenzeitlichen Differenzen. Aber die bringt das System mit sich.

Hat sich Ihre sozialpolitische Sichtweise auf das Schweizer Justizsystem – insbesondere auch auf die Tätigkeit der Polizei – seitdem Sie Regierungsrat sind, in irgendeiner Art und Weise verändert?

Nicht wesentlich, nein. Im Asylbereich ist die Position der SP seit jeher klar und unbestritten. Und ich stehe noch heute vollkommen dahinter. Beim Thema «Polizei» hat die SP ihre Positionen etwas geändert. Hier im Kanton war mit ein Auslöser dafür SP-Kantonsrat Sepp Kofler. Er als Polizist zeigte bei entsprechenden Themen in der Fraktion jeweils auf, wie die Realität ist. Einigen wurde dann jeweils bewusst, dass Polizistinnen und Polizisten ja auch Arbeitnehmer sind. Verändert hat sich bei mir etwas ganz anderes.

Und zwar?

Mein Blick auf die Realität. Das hat mich selbst erstaunt. Als Parlamentarier konnte ich im Kantonsrat ausrufen und die Faust auf den Tisch hauen. Und dann wieder abrauschen. Ich war nicht zuständig für ein Resultat. Auch als Fraktionspräsident hatte ich gewissermassen die Aufgabe eines Appenzeller Bläss. Als Regierungsrat wird einem sehr schnell klar: Dem Departement zugeordnete Probleme müssen gelöst werden. Entsprechend geht man anders an die Sache heran. Es bringt nichts, bei der Regierungsratssitzung zuerst das Parteibuch zu zitieren. Man würde sich im Gremium umgehend isolieren und bedeutungslos werden.

Noch ist unklar, wer Ihr Departement künftig übernehmen wird. Würde es sie freuen, das SJD würde in SP-Händen bleiben?

Ich habe mit der frisch gewählten Regierungsrätin Bettina Surber nicht darüber gesprochen. Es würde mich allerdings freuen, würde sie es übernehmen. Damit sich das Departement weiterentwickeln kann, wäre – wie schon erwähnt – eine juristische Ausbildung sicherlich kein Nachteil.

Welche Baustellen bzw. Projekte hinterlassen Sie?

Es stehen mehrere Totalrevisionen an, etwas vom Verwaltungsrechtpflegegesetz oder vom Polizeigesetz. Beides ist inzwischen durch unzählige Nachträge zu Flickwerken geworden. Im Asylbereich wird uns der Schutzstatus S in nächster Zeit stark beschäftigen. Bisher ist alles noch auf die Rückkehr von Ukrainerinnen und Ukrainern ausgerichtet. Aber die aktuelle Situation macht in den meisten Fällen eine Rückkehr nicht zumutbar. Was also machen wir mit diesen Menschen? Darum muss sich die Politik kümmern. Hinzu kommen Themen wie Cyberkriminalität, organisiertes Verbrechen, Terror oder Fangewalt in Fussballstadien. Meiner Nachfolgerin oder meinem Nachfolger wird es an Arbeit nicht fehlen. Vor allem sind es alles Fragestellungen mit einem hohen Konfliktpotenzial.

Nehmen Sie als abtretender Regierungsrat nun einige Geheimnisse mit in die Pension, von denen die Öffentlichkeit nie etwas erfahren darf?

Ja, ich nehme einige Geheimnisse mit – von Seiten des Bundes, aber auch vom Kanton. Dokumente mit dem Hinweis «vertraulich» oder «geheim» sind verschlossen aufbewahrt. Und nun muss ich sie fachgerecht entsorgen. Ich habe mich hier erkundigt, wie man das machen muss (lacht). Es hat da effektiv sehr interessantes Material dabei.

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Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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