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Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

Die katholischen Sozialdienste der Stadt St.Gallen haben im vergangenen Jahr fast ein Drittel mehr Beratungsgespräche verzeichnet. Ein Fall ist H.S. aus St.Gallen. Der Familienvater kämpft jeden Monat darum, dass sein Lohn zum Leben reicht.

Manuela Bruhin am 24. Februar 2024

Manchmal sprechen Zahlen für sich. H.S. wohnt mit seiner Frau und den drei gemeinsamen Kindern in St.Gallen, arbeitet als Elektriker und verdient im Monat 5'100 Franken brutto. Die Wohnungsmiete kostet 1'621 Franken, die Krankenversicherung 1'262 Franken.

Nach Abzug der gängigen Rechnungen für Strom, Nebenkosten, Abos, Telefon und Versicherungen bleiben der Familie rund 1'000 Franken im Monat, um zu leben. «Am schlimmsten ist die Angst, die Rechnungen für die nächste Periode nicht bezahlen zu können. Was den Lebensunterhalt betrifft, können wir einige Tage lang fasten», sagt H.S. im Gespräch mit «Die Ostschweiz».

Geflüchtet vor dem Krieg

Die Familie kommt ursprünglich aus Syrien, vor acht Jahren ist sie in die Schweiz geflüchtet. «Wir sind sehr glücklich, dass wir hier leben dürfen – ohne Krieg. Unsere Kinder können in Ruhe die Schule besuchen und ohne Waffen aufwachsen», so H.S.

Seit Mai 2018 besitzt er die B-Bewilligung, arbeitet seit 2019 in einer Firma im Toggenburg. Zuerst absolvierte er ein Praktikum, anschliessend erfolgte die Festanstellung als Elektriker.

Keine staatliche Unterstützung mehr

Auch wenn das Leben hier sehr viel besser sei – alles läuft nicht ohne Probleme. Die ständigen Geldsorgen belasten den Familienvater.

Nach dem Bezug der Sozialhilfe erhielt er im Jahr 2021 den Bescheid, aufgrund seiner festen Arbeitsstelle künftig keine staatliche Unterstützung mehr zu erhalten. Sein Lohn reicht aber dennoch nicht wirklich zum Leben.

«Wir essen praktisch nie Fleisch, was aber in Ordnung ist. Viel mehr Sorgen bereitet mir, wenn eine Arztrechnung ins Haus flattert. Das bringt alles durcheinander – und ich kann den Betrag nicht bezahlen.»

Die Wünsche der Kinder

Sein ältester Sohn ist 18 Jahre alt, seine jüngste Tochter besucht die erste Klasse. Natürlich sehen die Kinder die Spielsachen der Freunde, die Markenklamotten der Kollegen oder möchten das Klassenlager besuchen. Alles Wünsche, die in diesem Alter normal sind.

Sie bringen jedoch den Familienvater in Verlegenheit. Zu gerne würde er die Wünsche erfüllen – doch angesichts der ständigen Geldknappheit ist das unmöglich.

Die Lebensmittel besorgt die Familie im Caritas-Markt. Die regelmässigen Preiserhöhungen belasten das Budget täglich. «Mein Lohn ist im letzten Jahr um 100 Franken gestiegen», so H.S.

Auf der anderen Seite seien die üblichen Rechnungen, beispielsweise bei der Miete oder Krankenkasse, gesamthaft um 600 Franken angestiegen. «Wenn du jeden Tag arbeiten gehst, das Geld aber am Schluss nicht einmal dafür reicht, alle Rechnungen zu bezahlen, ist das traurig. Ständig im Kopf alles durchzurechnen, nur um dann die Gewissheit zu haben, dass es nicht reicht, ist nicht schön.»

Unterstützung erwünscht

In diesen Fällen, wenn beispielsweise eine unvorhergesehene Arztrechnung ansteht, wendet sich H.S. notgedrungen an die katholischen Sozialdienste der Stadt St.Gallen. Damit befindet er sich in bester Gesellschaft.

Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter führten im vergangenen Jahr 1'598 Beratungsgespräche durch. Das sind 626 mehr als noch im Jahr 2022.

«Wir haben gemerkt, dass sich die Fälle im vergangenen Jahr sehr akzentuiert haben», fasst es Franz Niederer, Leiter der katholischen Sozialdienste, zusammen. «Die Preise sind vielerorts angestiegen – bei den Lebensmitteln, der Energie oder der Krankenkasse. Es ist bedenklich, weil wir aufpassen müssen, dass diese Menschen nicht aus der Gesellschaft kippen.»

Schwierige Fälle

Die Fälle, welche von seinen Mitarbeitenden behandelt werden, seien sehr viel komplexer geworden. Jede Situation sei individuell. Und oftmals spielt die sprachliche Barriere eine grosse Rolle.

Weil die finanziellen Mittel für Dolmetscher fehlen, hilft bei Beratungsgesprächen in manchen Fällen Google – oder ein Bekannter der Klienten als Übersetzer. «Die Fälle ziehen sich somit in die Länge», sagt Niederer weiter.

Bevor überhaupt eine finanzielle Unterstützung gewährleistet werden kann, müssen diverse Informationen über die Situation eingeholt werden. Die katholische Sozialhilfe greift ein, wenn keine staatliche Sozialhilfe ausbezahlt wird, das Geld aber dennoch nicht zum Leben reicht – etwa, wenn eine Zahnarztrechnung ansteht. «Viele haben die Franchise auf das Maximum gesetzt, um Kosten einzusparen. Erfolgt jedoch ein Arztbesuch oder Spitalaufenthalt, können sie die Rechnung nicht bezahlen», sagt Niederer.

Ratschläge und Unterstützung

Im Jahr 2023 konnten die katholischen Sozialdienste 240‘539 Franken an Unterstützungsleistungen ausrichten. Auch dieser Wert ist gegenüber dem Vorjahr mit 170‘737 Franken stark angestiegen.

Grösstenteils stammt das Geld von gemeinnützigen Stiftungen oder anderen Pfarreien in der Schweiz. «Wir sind den katholischen Sozialdienste sehr dankbar», sagt H.S.

«Ich weiss nicht, was ich ohne sie getan hätte»

Nicht immer gehe es um finanzielle Unterstützung, sondern auch um Ratschläge, wo welche Kosten beantragt oder eingespart werden können. «Ich weiss nicht, was ich ohne sie getan hätte.»

Für die Zukunft wünscht sich H.S. ein sorgenfreieres Leben, insbesondere auch für seine Kinder. «Sie sollen glücklich aufwachsen dürfen und es einmal einfacher haben, als es bei uns der Fall ist.»

(Bild: Depositphotos.com)

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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