Die SBB ist Teil des Service public. Gleichzeitig macht sie auf Privatwirtschaft und optimiert den Gewinn aus dem Immobiliengeschäft ohne Rücksicht auf gesamtgesellschaftliche Verluste. Ein Doppelspiel, das nur dank der Doppelmoral der Politik funktioniert.
Dies gelesen: «Die SBB lassen sich bei ihrem Geschäftsmodell offenbar von China inspirieren.» (Quelle: ww.tagblatt.ch, 21.2.2023)
Das gedacht: Die SBB plant, ihre grösseren Bahnhöfe mit Kameras mit integrierter Gesichtserkennungssoftware auszurüsten, welche die Reisenden auf Schritt und Tritt verfolgen. Ziel der Übung ist es, Alter, Geschlecht, Grösse und das mitgeführte Gepäck zu erfassen und diese Daten mit den Daten der Kassen der Bahnhofsläden zu verknüpfen. Damit möchte man die «Abschöpfungsrate» erhöhen. Abgeschöpft werden soll die Kaufkraft der Kundinnen und Kunden der Bahnhofsläden.
Die Absichten der SBB haben eine Diskussion zur Frage ausgelöst, ob diese Massenüberwachung rechtlich zulässig ist. Für Monika Simmler, SP-Kantonsrätin und Strafrechtsprofessorin an der HSG, ist der von den SBB geplante Einsatz von Gesichtserkennungssoftware ein schwerer Eingriff in unsere Grundrechte. Nicht hinterfragt wird jedoch die grundsätzliche Übungsanlage, die hinter den Absichten der SBB steht. Und dabei ist es gerade diese Übungsanlage, die das Ganze so problematisch macht.
Die SBB ist nicht irgendein Unternehmen. Als Service-public-Betrieb wird sie zu einem grossen Teil von den Steuerzahlenden finanziert. Jedes Jahr erhält die SBB rund 2,7 Milliarden Franken an Subventionen. Gleichzeitig macht sie als Vermieterin von Einzelhandelsflächen auf Privatwirtschaft und Bahnhöfe zu Einkaufszentren. Auch dabei gilt, nicht zu irgendwelchen Einkaufszentren. Bahnhöfe und ihre Ladengeschäfte funktionieren nach eigenen Regeln.
Dazu gehört, dass für die sogenannten Nebenbetriebe in den Bahnhöfen die Vorschriften der Kantone und Gemeinden über die Öffnungs- und Schliesszeiten keine Anwendung finden. Hier darf man auch am Abend und am Sonntag einkaufen. Im Gegensatz zu allen anderen Einzelhändlern in den Stadtzentren. Ein Wettbewerbsvorteil, der die hohen Mieten für Ladengeschäfte in den Bahnhöfen erklärt.
Ein bemerkenswertes Doppelspiel. Auf der einen Seite spielt die SBB Service public, beansprucht ein Staatsmonopol, kassiert Subventionen und profitiert von einer Vorzugsbehandlung als Betreiberin von Einkaufszentren. Auf der anderen Seite sieht man sich als Teil der Privatwirtschaft und maximiert den Gewinn aus dem Immobiliengeschäft ohne Rücksicht auf gesamtgesellschaftliche Verluste. Falls nötig sogar mit der Massenüberwachung von Bahnkunden.
Ein Doppelspiel, das nur dank der Doppelmoral der Politik funktioniert. Dieselben politischen Kräfte, die bei jeder Gelegenheit angeblich überzogene Mieten reklamieren, freiheitlichere Öffnungszeiten bekämpfen und Arbeitsplätze ohne Tageslicht kritisieren, haben dann kein Problem, wenn es um ein Staatsunternehmen wie die SBB geht. Es gilt, was George Orwell in seiner Fabel «Die Farm der Tiere» so treffend formulierte: Alle sind gleich, aber einige sind gleicher.
Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.