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Was darf Satire?

Als der Nebelspalter mächtig Ärger bekam

Der Nebelspalter ist plötzlich wieder in aller Munde, weil er eine neue Besitzerin erhält. Zuvor war es um das Magazin eher still. Letztmals schweizweit zu reden gab die Satirezeitschrift 1996. Es ging um die Armee - und um eine Kreuzigungsszene auf der Titelseite.

Stefan Millius am 05. Dezember 2020

«Medienethische Grenzen satirischer Medienbeiträge»: Das ist der Titel einer Beurteilung des Presserats - einer ellenlangen. Das Gremium, das gewissermassen die Arbeit der Medien in der Schweiz auf Antrag hin überprüft, hatte es damals mit einem ganz besonderen Fall zu tun. Es ging nicht um eine der üblichen Beurteilungen wie beispielsweise, ob ein Artikel objektiv ausgefallen ist oder ob der Persönlichkeitsschutz gewährleistet war.  Es ging um eine der ältesten Fragen: Was darf Satire?

Doch von Anfang an. 1995 stand der legendäre Nebelspalter, der damals noch in Rorschach beheimatet war, unter der Chefredaktion von Iwan Raschle. Dessen Berufung leitete einen Umbruch ein. Das Satiremagazin, das damals seit einigen Jahren eher gemächlich unterwegs war und vor allem in den Wartezimmern von Arztpraxen durchgeblättert wurde, erhielt einen neuen Kurs. Schärfer härter. Der Geschichte zufolge führte der Kurswechsel zu einem Einbruch bei den Abos und damit auch der Werbeeinnahmen.

Im November 1995 zeigte der Nebelspalter auf der Titelseite eine Kreuzigungsszene. Gekreuzigt wurde nicht Jesus, sondern ein Rekrut. Die Zeitschrift nahm damit Bezug auf einen tragischen Vorfall. Am 16. März 1993 verstarb ein Rekrut einer Gebirgsinfanterieschule in der Westschweiz auf einem 20-Kilometer-Marsch. Der junge Mann war stark übergewichtig, konnte das Tempo nicht mithalten und brach schliesslich zusammen. Weitere Details trugen zur allgemeinen Aufregung bei: Der Rekrut liess sich offenbar von zwei anderen vor ihm mit einem Gurt «anbinden», um Schritt halten zu können.

Es folgte eine militärische Untersuchung. Diese ergab, dass der Rekrut ausdrücklich mitmarschieren wollte. Auch die Befestigung an zwei Kameraden sei mit seinem Einverständnis erfolgt. Die Truppe war allerdings schneller unterwegs als das vorgesehene Tempo. Der Westschweizer erlitt Beinkrämpfe, wollte aber weitergehen, zeitweise musste er von anderen geschoben werden. Nach knapp neun Kilometern brach er auf einer Brücke bewusstlos zusammen. Wenig später verstarb er im Spital.

Die Autopsie brachte einen Herzfehler zutage, der laut Experten «eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Rolle beim tragischen Geschehen» spielte. Der zuständige Truppenführer wurde im Oktober 1995 von einem Militärgericht wegen fahrlässiger Tötung zu 20 Tagen bedingt verurteilt. Die Armee focht dieses Urteil an, aber im Febrzar 1996 verschärfte das Militärappellationsgericht die Strafe auf 6 Tage Gefängnis bedingt wegen fahrlässiger Tötung.  Eine wichtige Rolle beim Urteil spielte, dass das Marschtempo hoch war und dass der Kommandant nicht einschritt, als sich zeigte, dass der Rekrut dieses nicht mithalten konnte. Auch wurde bemängelt, dass am Marsch sowohl Spitzensportler sowie - wie im Fall des Verstorbenen - ein Küchengehilfe teilnahmen, die natürlich nicht dieselben Voraussetzungen haben.

Der Nebelspalter griff das Ganze nach dem erstinstanzlichen Urteil auf, zwei Jahre nach dem tragischen Vorfall. Rund zehn Seiten der Ausgabe waren mit verschiedenen Beiträgen dem Thema gewidmet, auf dem Titelbild war ein Soldat der Schweizer Armee, angenagelt an einem Kreuz, zu sehen. Die Schlagzeile dazu: «Die Schweizer Armee fordert Menschenopfer.»

Das liess man sich bei der Armee nicht gefallen, sie gelangte an den Presserat. Dieser hat keine offizielle Funktion, er kann Beschwerden gutheissen oder abweisen und fordert jeweils, dass das «Urteil» publiziert wird. Im schlimmsten Fall kassiert ein Medium also eine Rüge. Die Armee befand bei ihrer Beschwerde, das alles habe nichts mehr mit Satire zu tun. Was bedeutete, dass der Presserat diese komplexe Frage beantworten musste.

Auch aus der Leserschaft des Nebelspalters kam empörte Kritik, aber die bezog sich weniger auf die Armee, sondern auf die Verletzung religiöser Gefühle. Wobei hier einzufügen ist, dass Kreuzigungen zwar in unserer Kultur stets mit Jesus verknüpft werden, diese Art der Hinrichtung damals aber gang und gäbe war und keineswegs nur mit dem «Gründer» unserer Religion gleichzusetzen sind.

Chefredaktor Iwan Raschle erhielt die Gelegenheit, Stellung zu beziehen, wollte diese aber nicht wahrnehmen. Seine Begründung: Der Presserat sei für den Nebelspalter nicht zuständig, weil dieser ein Satiremagazin sei. In seiner Antwort schrieb er: «Ich bin der Meinung, dass unsere Arbeit – wenn schon – von einem Satire-Rat zu beurteilen wäre, und dass, weil es keinen solchen gibt, demnach mindestens drei der sechs über unsere Arbeit richtenden Personen Satireschaffende sein müssten…»

Der Presserat stand vor einer schwierige Aufgabe. Sie hatte die Grenzen von Satire zu beurteilen. In einer ungewöhnlich langen Beurteilung wurden verschiedene Aspekte behandelt. Dafür befragte man auch andere Satiriker, Philosophen und so weiter. Mit dem Resultat, dass sich keine einheitliche Definition von Satire finden liess - wie das seit Urzeiten ist. Der Presserat kam allgemein zum Schluss, er sei sehr wohl auch für den Nebelspalter zuständig. Es handle sich grob gesagt um kommentierende Formen, also einen Teil journalistischer Arbeit. Zu beurteilen seien aber nur medienethische Aspekte und keine Geschmacksfragen. Auf die ellenlangen detaillierten Ausführungen zu einzelnen Elementen aus dem Nebelspalter sei huer verzichtet. Grundsätzlich erkannte der Presserat in der Darstellung des Soldaten am Kreuz keine Verletzung der «Erklärung der Pflichten der Journalistinnen und Journalisten.» Dabei handelt es sich um eine Art inoffizielles Regelwerk der Medienarbeit. Wobei zu erwähnen ist, dass die betroffenen Journalisten beim «Nebi» diese Erklärung wohl nie unterzeichnet haben, aber wie so viele andere Medienschaffende einfach unfreiwillig dieser «Pflicht» unterzogen werden.

Gerügt wird hingegen, wie mit dem Opfer umgegangen wurde, der stellenweise mit Beschreibungen seines Äusseren und seines Verhaltens lächerlich gemacht werde. Die Privatsphäre des verstorbenen Rekruten sei damit unnötig verletzt worden. Bemängelt wurde auch, dass es die satirische Form vor allem beim flüchtigen Lesen verunmögliche, zwischen Fiktion und Information zu unterscheiden - was ist wirklich geschehen, was wurde überspitzt oder erfunden?

Diese Beurteilung zeigt, wie schwierig die Aufgabe von Anfang an war. Satire kann nicht funktionieren, wenn sie mit einer «Gebrauchsanweisung» kommt: Hier die Fakten und hier - Achtung! - die Satire.

Das Fazit aus Sicht des Presserats: Die harte Kritik an den Umständen des tragischen Todesfalls durch Satire sei zulässig und keine Verletzung der journalistischen Pflichten. Verletzt worden seien diese aber dadurch, dass der Nebelspalter «die Person und das Sterben des Pierre-Alain Monnet ins Lächerliche gezogen hat.» Er habe dadurch «auf unnötige Weise die Privatsphäre des Verstorbenen verletzt.»

Sicher ist: Die ganze Sache sorgte für Debatten. Und das müsste letztlich auch die Aufgabe eines echten Satiremagazins sein.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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