Vor rund siebzig Jahren ging von der Ostschweiz ein globaler bahnbrechender Impuls in der Depressionsbehandlung aus. Seine Spätfolgen werden die Thurgauer Politik aber noch eine Weile beschäftigen.
Im Auftrag der Thurgauer Regierung durchforstet noch immer eine Gruppe von Experten um die Zürcher Historikerin Marietta Meier den schriftlichen Nachlass von Roland Kuhn. Sie soll die Frage klären, ob der ehemalige Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen bei seinen Versuchsreihen zu neuen Psychopharmaka die damals gültigen juristischen und ethischen Standards eingehalten hat.
Hat sich seit den Zeiten Kuhns in der klinischen psychiatrischen Behandlung etwas verändert?
Eingeschränkte Sichtweise
Prof. Dr. Roland Kuhn stiess in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch eine Zufallsentdeckung auf einen Wirkstoff zur Behandlung von Depressionen. Unter dem Markennamen Tofranil© wird er noch immer verschrieben. Mittlerweile haben sich erhebliche Nebenwirkungen bemerkbar gemacht, das Medikament hat deutlich von seinem einstigen Glanz eingebüsst.
Kuhns Leistung gilt bis heute in Fachkreisen als bahnbrechende Pioniertat. Einzelne Ostschweizer Berufskollegen hielten ihn sogar für nobelpreiswürdig .Vor Kuhns Entdeckung gab es kaum wirksame Behandlungsmöglichkeiten gegen krankhafte Verstimmungszustände.
Kuhns Durchbruch bei der Depressionstherapie führte zu einer Art Tunnelblick bei vielen Ärzten. Sie sahen das Heil fast ausschliesslich in der Pharmazie. Seither hat die Heilkunde dazugelernt: Bei der Behandlung einer Krankheit kann man sich als Mediziner auf die kranken Aspekte eines Menschen konzentrieren und die Symptome mit Medikamenten möglichst unterdrücken. Wie man heute weiss, ist es nachhaltiger, wenn vor allem die gesunden Anteile gefördert werden.
Leiden am Menschsein
Heinrich Karl Fierz, früherer Chefarzt der Klinik am Zürichberg, betonte in einer Schrift, wenn man als Arzt an einer Depression erkrankte Menschen ausschliesslich mit Medikamenten behandle, glaubten sie, in die Hände von Veterinären geraten zu sein. Sie würden in ihrem Mensch sein leiden, daher müssten sie vor allem auch menschlich behandelt werden.
In der Denkweise in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg waren viele körperliche und psychische Störungen primär Ausdruck eines Mangels an bestimmten chemischen Substanzen. In der Mentalität der Zeit wurde der Mensch vor allem mechanistisch gesehen. Dass er in komplexe Wechselbeziehungen mit seiner Umgebung eingebunden ist, wurde erst ab den achtziger Jahren Allgemeingut im medizinischen Denken.
Zugespitzt formuliert: dem kranken Menschen mangelt es nicht an einem Ersatzteil oder Betriebsstoff, wie einer Maschine, er benötigt Lebensumstände, die zu einer psychischen und physischen Stabilität beitragen. Folgerichtig erfordern verschiedene Krankheiten zur Gesundung Massnahmen zur Wiedereingliederung, um im Alltag wieder Fuss zu fassen. Sie sollen das Risiko eines Rückfalls minimieren, indem sie stabile und tragfähige Lebensumstände schaffen, beispielweise durch therapeutische Familiengespräche.
Fähigkeiten zur Alltagbewältigung
Ob Depression, Schizophrenie, Zwangsstörung, Neurose, Suchterkrankung, die Gemeinsamkeit psychischer Krankheiten ist das teilweise oder gänzliche Unvermögen, den Alltag zu bewältigen. Die Wahrnehmung von sich selber und von den Mitmenschen in der Umgebung, das Denken und Handeln sowie die vorausschauende Perspektive sind beeinträchtigt. Für ein selbständiges, einigermassen zufriedenes und konfliktarmes Leben sind die obigen Fähigkeiten entscheidend. Heute würde man in diesem Zusammenhang von Sozial- und Selbstkompetenz sprechen. Sie sind keine angeborenen Fähigkeiten, sie müssen entwickelt, geübt und verfeinert werden.
Medikamente als Unterstützung
Psychisch Erkrankte sind in ihrem Alltag gescheitert, sie haben womöglich erhebliche Schwierigkeiten mit ihren Angehörigen, am Arbeitsplatz und eventuell mit den Finanzen oder der Wohnsituation. Bei derartigen Problemen können Psychopharmaka nur indirekt unterstützend wirken. Sie helfen etwa den Wach-/Schlafrhythmus wieder zu strukturieren, das chaotische Gefühlsleben zu besänftigen und eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit anzugleichen.
Dadurch können die Patienten an therapeutischen Einzel- oder Gruppentherapien teilnehmen, sich regelmässig ernähren und ihre Körperpflege verrichten, und vor allem stabile tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen und pflegen, um sich so sozial zu reintegrieren und zu stabilisieren.
Wiedererlangung der Fähigkeiten
Psychopharmaka sind aus heutiger Sicht nur Mosaiksteine in einer komplexen Behandlungsstrategie. Zur Wiedereingliederung der Patienten setzt die Psychiatrie auf Ambulatorien, Tageskliniken, betreute Wohngruppen sowie auf spezifische Spitex, die im Alltag praktische Lebenshilfe leistet.
Kliniken wollen heute weniger Anstalten für gesellschaftlich Gestrauchelte, sondern Reha-Institutionen für Menschen mit einer vorübergehenden oder dauerhaften psychischen Beeinträchtigung sein. Seit auch Spitzenpolitiker und Manager öffentlich zu ihren Burnout-Zuständen stehen, habe psychische Krisen das Stigma einer Schwäche etwas verloren.
Erkrankte bauen in speziellen Trainingsprogrammen ihre Arbeitsfähigkeit wieder auf. In Gesprächen mit Pflegefachkräften, Psychologinnen, Sozialarbeitern und Psychiatern gewinnen sie konstruktive Einsichten in die Mechanismen ihres selbstschädigenden Verhaltens. Sie werden von ihnen in der beruflichen und privaten Zukunftsplanung unterstützt.
Sie sanieren zudem mit fachlicher Hilfe ihre persönlichen Baustellen, etwa durch eine Schuldensanierung und eine Budgetplanung. Und sie bauen allmählich wieder Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten auf. Ziel ist es, ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen.
Reha zur Kostensenkung
Sie lernen zudem auftretende Schwierigkeiten im Alltag erfolgreicher zu bewältigen. Sie werden achtsamer auf Anzeichen, dass sich ihr Zustand wieder verschlechtert und bemühen sich frühzeitig um kompetente Unterstützung, um einen allfälligen Rückfall möglichst früh abzufedern. Damit werden sie höchstens für kurze Zeit aus ihrem sozialen Umfeld herausgerissen und haben keine längeren Absenzen am Arbeitsplatz. Dies ist für die rasche Wiedererlangung der psychischen Stabilität sehr wichtig. Und es verursacht den Krankenkassen und den Sozialversicherungen auf Dauer deutlich weniger Kosten.
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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