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Kommentar

Altersvorsorge und Zuwanderung

Nach der AHV-Abstimmung ist vor dem Herumdoktern an der beruflichen Vorsorge, sagte sich der Politgeograf Michael Hermann und präsentierte kürzlich im Tages-Anzeiger seine Vorschläge für «eine generationengerechte AHV-Reform ohne Rentenkürzungen».

Thomas Baumann am 20. Oktober 2022

Kern seiner Vorschläge ist die Stabilisierung der beruflichen Vorsorge durch Zuschüsse, die sich aus einer "moderaten Erbschaftssteuer von rund 5 Prozent" speisen. Mit den Worten von Michael Hermann: "Der hier vorgeschlagene Ansatz baut darauf, dass Schweizerinnen und Schweizer aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung immer später in ihrem Leben erben." Man beachte das Subjekt seines Satzes! Darauf wird zurückzukommen sein.

Der Freiburger Wirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger brachte vor einigen Jahren die Idee ins Spiel, dass "Zuwanderer höhere Steuern und Gebühren zahlen" sollen als Einheimische. Dies ist typische Ökonomen-Denke. Durch die Zuwanderung im Rahmen der Personenfreizügigkeit steigt der allgemeine Wohlstand. Aber einige Personen kommen leider schlechter weg. Nicht unter den Zuwanderern (denn diese haben ja die Freiheit, nicht zu kommen, wenn es sich für sie nicht lohnt) - sondern unter der bereits ansässigen Bevölkerung. Würde man diese "PFZ-Verlierer" mit einem Teil des Wohlfahrtsgewinns, welche die PFZ mit sich bringt, vollständig kompensieren, dann ginge es am Ende niemandem schlechter, aber einigen besser. Soweit gemäss ökonomischem Lehrbuch.

Aber was hat eine höhere Besteuerung von Ausländern bzw. Zuwanderern mit der Altersvorsorge zu tun? Einiges sogar: Denn je nach Ausgestaltung werden in der Altersvorsorge Inländer und Ausländer unterschiedlich belastet.

Die AHV ist in der Ökonomensprache ein sogenanntes PAYGO-(Pay As You Go)-System. Oder auf gut Deutsch: Es funktioniert nach dem Umlageverfahren. In der ökonomischen Modellierung ist klar: Die erste Generation erhält Rente, ohne Beiträge zu bezahlen und die "letzte Generation" bezahlt Beiträge, ohne Rente zu erhalten.

Heutzutage wird im politischen Diskurs ständig auf die Bedeutung der Zuwanderung für die Stabilisierung der Altersvorsorge hingewiesen. Also: Je mehr junge, erwerbstätige Personen zuwandern, desto eher können die AHV-Renten der heutigen Rentner und vielleicht noch der nächsten Generation bezahlt werden. Aber natürlich stellt sich die Frage, wer dann eines Tages wieder die Rente der jetzigen Beitragszahler sichern soll. Und dabei gilt wiederum: Je mehr es heute davon gibt, desto herausfordernder wird in Zukunft die Finanzierung werden.

Der AHV-Beitrag beträgt 8,7 Prozent auf den Bruttolohn (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag zusammen). Dies ist de facto nichts anderes als eine Lohnsteuer.

Bei der erwerbsfähigen Bevölkerung im Alter von 20-64 Jahren betrug der Ausländeranteil im letzten Jahr 30%. Bei den über 65-jährigem Rentnern betrug er jedoch nur 11%. Damit findet bei der AHV nicht nur ein Transfer zwischen Generationen statt, also von jüngeren Erwerbstägigen zu älteren Rentnern, sondern ebenfalls von Zuwanderern zu Einheimischen: Ausländische Zuwanderer finanzierten die AHV der inländischen Rentner substantiell mit.

Natürlich zahlen ausländische wie inländische Arbeitnehmer AHV-Beiträge. Aber auf der aggregierten (Gruppen-)Ebene betrachtet, zahlen Ausländer als Gruppe mehr als sie erhalten. Wenn dies die "letzte Generation" des System wäre, also die Generation, die nur einbezahlt und keine Beiträge erhalten würde, dann wäre die AHV implizit eine Art Extra-Steuer auf Zuwanderer, die als Gruppe damit einen Transfer an die Gruppe der Einheimischen (Rentner und Erwerbstätige zusammengezählt) leisten.

Genau gegenteilige Auswirkungen hat der Vorschlag von Michael Hermann. Hier würden alte einheimische Erblasser zukünftige ausländischen Rentenbezieher mitfinanzieren. Der Politgeograf hat es unwissentlich bereits gesagt: "Der hier vorgeschlagene Ansatz baut darauf, dass Schweizerinnen und Schweizer aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung immer später in ihrem Leben erben." Es sind vor allem Erblasser schweizerischer Staatsangehörigkeit, deren Erbe besteuert wird.

"Vermögenswerte zirkulieren heute immer häufiger zwischen Hochbetagten und angehenden Rentnern", stellt Michael Hermann in seinem Text korrekt fest. Der Ausländeranteil bei den "angehenden Rentnern" (in diesem Fall Personen zwischen 55 und 64 Jahren) beträgt rund 20%. Der Ausländeranteil bei den über 80-Jährigen jedoch nur rund 10%. Und bei der Gruppe der über 85-Jährigen sind es gar nur rund 8%. Zwar steigt in keinem Alterssegment der Ausländeranteil stärker an als bei den über 80-Jährigen: In den letzten zehn Jahren um zwei Drittel von 6% auf rund 10%. Dies zeigt, dass sich die Zuwanderung langsam aber sicher durch die Bevölkerungspyramide nach oben durcharbeitet. Aber noch trägt der Ausländeranteil bei den über 80-Jährigen potentiellen Erblassern bloss 8%, während er bei den angehenden Rentnern mit rund 20% viel höher liegt. Bei einer Besteuerung der Erbmasse zu Gunsten der beruflichen Vorsorge findet somit unweigerlich auch eine Umverteilung von Einheimischen zu Zugewanderten statt.

Zwar haben natürlich auch angehende BVG-Rentner mit Migrationshintergrund Eltern - nur wohnen diese noch immer häufig im Ausland. Da beim Erbrecht auf das Wohnsitzland des Erblassers abgestellt wird, eine allfällige Erbschaftssteuer also im Heimatstaat des Verstorbenen zu entrichten ist, wäre es schwierig, wenn nicht systemwidrig, darauf auch noch im Inland eine Abgabe erheben zu wollen. Ganz abgesehen davon, dass dabei oft nicht viel zu holen wäre, da es sich in den meisten Fällen um arme Länder handelt.

Da Zuwanderung freiwillig ist, kann man davon ausgehen, dass sich diese für die Zugewanderten immer lohnt. Etwas anders ist es bei den Einheimischen: Ein Teil profitiert, ein Teil leidet jedoch unter der Zuwanderung. Umverteilung von den Zugewanderten zu den Einheimischen ist daher sicher das bessere Rezept als umgekehrt.

Einen Faktor gibt es jedoch, der die Idee von Michael Hermann "retten" könnte: Ein Grossteil des Vermögens in der Schweiz ist in Wohneigentum gebunden. Wer Wohneigentum besitzt, profitiert tendenziell von der Zuwanderung und dem damit einhergehenden Druck auf den Immobilienmarkt - wer hingegen kein Wohneigentum hat, leidet. Bei einer Besteuerung des Erbes fliesst daher unweigerlich auch Geld von Familien mit Immobilienbesitz zu Familien ohne. Dies sind einerseits Ausländer - aber auch überproportional viele "PFZ-Verlierer" (wegen der infolge der Zuwanderung gestiegenen Mietpreise). Durch eine Besteuerung des Erbes zu Gunsten der beruflichen Vorsorge würde somit ein Teil des Gelder von einheimischen "PFZ-Gewinnern" zu einheimischen "PFZ-Verlierern" umverteilt, was unter Verteilungsgesichtspunkten tendenziell erwünscht ist.

Fazit: Bei der Altersvorsorge gibt es eine Vielzahl von Verteilungswirkungen, die mit in die Betrachtung einfliessen sollten.

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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