Bild: Urs Oskar Keller
Wenn Pferdeattrappen durchs Dorf ziehen, dann hat in Appenzell die Fasnacht begonnen. Die unverwechselbaren «Botzerössli» führen zusammen mit Trommlern die Umzüge an. Es ist ein alter Brauch, der an Beliebtheit nichts eingebüsst hat.
Die «Botzerössli» sind eine alemannische Eigenheit und ein Kulturgut der Appenzeller Fasnacht. Alt und Jung in ausgedienten Uniformen «reiten» einfache Pferdeattrappen. Über ihren Schultern tragen sie mit Leder- oder Kunststoffriemen die Holzrössli wie einen Rucksack und werden durch die «Trömmelibuebe ond Trömmelimeedle» angetrieben.
Schimmel, Rappen, Füchse, Braune und Gescheckte galoppieren am Vorabend des Schmutzigen Donnerstags (28. Februar 2019) durch Gassen von Appenzell. Mit den sogenannten «Botzerössli» wird freudig die Fasnachtszeit angekündigt. Man fühlt sich wie an einem zirzensisch-musikalischem Concours Hippique. Botzerössli, eine närrische Pferderasse aus Appenzell.
Bild: Urs Oskar Keller
«Etz närreleds, Faschnet wie früene», freut sich eine ältere Appenzellerin. Die närrische Zeit hat das katholisch geprägte Innerrhoden erreicht. Auch am Schmutzigen Donnerstag und am «Faschnedsamschtig» (Fasnachtsamstag) bilden die «Botzerössli» und die Trommler die Vorhut von Kinderumzügen und vom grossen Fasnachtumzug durch Appenzell.
Es wird nicht militärisch aufmarschiert, sondern alles ist ziemlich locker, und die wenigstens laufen im Schritt. Währenddem die vielen Trommeln für fasnächtlichen Rabatz und Trubel sorgen, kommen die grossen und kleinen Pferde ganz ohne Hufgetrappel daher. Sie erscheinen auf leisen Gummisohlen.
Warum? Bei der Appenzeller Rasse der «Botzerössli» handelt es sich um Pferde aus Tannenholz. Die ursprünglich mit alten blauen Militär- und neuerdings auch mit Feuerwehruniformen bekleideten Reiterinnen und Reiter, deren Beine weitgehend von einem farbigen Stofftuch verdeckt sind, tragen die hölzernen Pferdeattrappen mithilfe eines «Gschtäältli» aus Kunststoffbändern oder Lederriemen.
Im Rumpf der «Rössli», der aus dreischichtigem Tannenholz hergestellt wird, ist ein Loch ausgeschnitten, sodass der Oberkörper der Reiter sichtbar ist. Längst ist diese «Kavallerie» keine Männerdomäne mehr. Neben Militärschuhen mit Gamaschen tragen die Reiter und Amazonen auch mal Turnschuhe oder schicke Stiefel.
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Haar von echten Rossschwänzen
Der Fasnachtsverein Appenzell engagiert sich für dieses besondere Brauchtum. Der Zimmermann Baptist Neff baut in seinem Betrieb gelegentlich solche «Botzerössli». Er bewahrt sie während der Fasnacht bei sich zuhause an der Alten Unterrainstrasse in einem Nebengebäude auf. Die Pferdeattrappen bestehen aus einheimischem Tannenholz und teilweise aus echtem Haar von echten Rossschwänzen. Die Herstellung eines solchen Pferdchens kostet je nach Grösse, Material und Ausführung rund 1000 Franken und benötigt ein bis zwei Tage Arbeit.
Neff führt die «Kavallerie» mit bis zu dreissig Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern an. Die Reiterinnen und Reiter werden mehrheitlich von seiner Ehefrau Vreni geschminkt. Ins Gesicht malt sie ihnen grosse, schwarze Schnauzbärte, einige Sommersprossen und rote Wangen.
Zum erwähnten Verein gehören auch die 35 «Appezölle Trömmelibuebe und -meedle». Sie stehen unter der Leitung des Kunsthandwerkers und «Obertrommlers» Adalbert Fässler, der sich seit über 40 Jahren für diesen Brauch einsetzt. Er unterrichtet die grossen und kleinen Talente, damit sie ihren öffentlichen Auftritt taktvoll bestreiten können, während sich sein Bruder Maurus bemüht, dass alle Teilnehmenden stilgerecht eingekleidet sind. Auch stellt Adalbert seit mehreren Jahren kunstvoll Holzrössli her. Getan hatten dies bereits sein Grossvater, der Sattler Johann Baptist Fässler (1893–1969), wie auch sein gleichnamiger Vater (1933–2010), der sich als Künstler und Grafiker betätigte.
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Ins Dorf «gömpelet»
Die Familie von Baptist und Vreni Neff-Inauen ging schon früh mit ihren Kindern mit grosser Begeisterung auf die «Rösslifasnacht». Nach und nach kamen Freunde dazu, und heute ist es eine ganze Truppe, die gemeinsam an das «Iitrömmele» geht. Baptist Neff führt die Gruppe seit fast zwei Dekaden und meint: «Das hat sich so ergeben, weil wir über die Fasnachtstage im Stall genügend Platz haben für die vielen Pferde.
Über das Jahr sind die ‹Botzerössli› im Lager des Fasnachtsvereins.» Es sei viel lustiger, wenn man in der Gruppe ins Dorf «gömpelet» und sich vorher zusammen anziehe, sagt Baptist Neff. Und seine Frau Vreni ergänzt: «Das macht es auch aus, dass wir an diesem Brauch Freude haben und zusammen eine Menge Spass während den Fasnachtstagen erleben. ‹Es ischt au da Johr eefach wide schö ond loschtig gsee!›»
Auch Kathrin Birrer und ihre Familie haben unterdessen diesen Brauch gerne bekommen: «Es ist schön, in dieser Gruppe mitzumachen, wir sind herzlich empfangen worden, als wir neu dazugestossen waren. Ich glaube, den Kindern – und auch den Erwachsenen – gefällt einerseits das Sujet und andrerseits das Zusammengehören. Dazu kommt der Rhythmus der Trömmeler, der antreibt», sagt die in Appenzell wohnhafte Mutter.
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Mütter haben «Botzerössli» geschreinert
Auch zahlreiche Mütter mit ihren kleinen Kindern sind teilweise mit nostalgischen Pferdchen unterwegs. Eine Gruppe von ihnen hat schon vor vielen Jahren für ihre Kinder neue und einfache «Botzerössli» geschreinert, und auch der Fasnachtsverein Appenzell hat seine Holzpferde restauriert. Kathrin Birrer nimmt zusammen mit ihrem Sohn und ihrer Tochter mit zwanzig Jahre alten und mit viel Sorgfalt bearbeiteten Holzpferdchen an den Veranstaltungen in Appenzell teil.
Die kleinen Buben und Mädchen galoppieren und springen schon mit, mit hübsch bemalten und verzierten Pferdchen. «Traditionen werden so auf natürliche Art und Weise erhalten und weitergegeben», meint die Besucherin Barbara Rüttimann aus dem thurgauischen Altnau, die selbst Appenzeller Wurzeln besitzt.
Bild: Urs Oskar Keller
«Ommetrommere» mit Tambouren und Rössli
Die «Botzerössli» seien eine exotische und berichtenswerte Spezie an der «Appezölle Faschned», erzählt Roland Inauen, Landammann, Volkskundler und Museumsleiter in Appenzell. Bereits am Mittwoch findet ab 17 Uhr jeweils das «Iitrömmele» auf dem Landsgemeindeplatz statt. Die «Faschned» wird eingetrommelt und -geritten, und es sind dann am meisten «Botzerössli» im Dorfkern unterwegs. Für alle Botzerössli, Trömmelibuebe und Trömmelimeedle gibt es nach dem Eintrommeln im Gasthaus Hof Wienerli und Getränke.
Natürlich sind die bis zu 25 «Botzerössli» jeweils auch am Schmutzigen Donnerstag (28. Februar 2019; Kinderumzug durchs Dorf) – hüpfend, trabend und tänzelnd ein Pferdchen mimend – unterwegs, auch am «Faschnedsamschtig» (grosser Umzug mit Beteiligung der «Botzerössli») sowie am «Faschnedsmeentig» (2. März; Kinderumzug und Kinderfasnacht mit vereinzelten «Botzerössli» ab 14.30 Uhr). An diesen Auftritten fegen sie im Galopp herum und zeigen ihre Reitkünste. Auch ein grauer Esel ist unter ihnen. Die Freude bei den Besucherinnen und Besuchern ist gross.
Dass die fasnächtliche Reiterschar inzwischen wieder eine stattliche Grösse angenommen hat, freut auch die neue Präsidentin des Fasnachtsvereins, Andrea Mathis. Ihr liegt viel daran, dass der Brauch der «Botzerössli» gelebt wird. «Wir laden Sie ein auf einige schöne Stunden in freier Natur und an der frischen Appenzeller Luft. ‹Chönd zonis›», schreibt Guido Buob, Geschäftsführer von Appenzellerland Tourismus AI in einem Werbemail. «Etz närreleds!»
Bild: Urs Oskar Keller
Die «Botzerössli» wollen getränkt werden
Gestandene Männer traben, Frauen galoppieren, tänzeln mit den Kindern durch Gassen von Appenzell. Viele sind wild, rennen hin und her und sind widerspenstig. Eine anstrengende Sache für Pferde und Reiter… Auf dem Parcours halten die «Botzerössli» an den grossen Dorfbrunnen.
Ab und zu wollen die «Botzerössli» auch getränkt werden, weshalb die Reiter bei verschiedenen Brunnen Halt machen, erzählt Jacqueline Fässler-Fässler, ehemalige Präsidentin des Fasnachtsvereins. Im Dorf Appenzell, dass rund 7000 Einwohnern zählt, gibt es einige öffentliche Brunnen.
Schönes Saumzeug ist angebracht worden, und geschickt werden die Pferdchen geführt und gelenkt. An den seitlichen Lederriemen sind Schellen montiert. Die «Botzerössli» hüpfen und springen ausgelassen umher, sodass die Glöcklein am Zaumzeug munter klingeln. Nicht immer seien die Tiere leicht zu zügeln, und so komme es vor, dass Pferd und Reiter die Leute am Strassenrand mit ihrem stürmischen Temperament erschrecken, meint ein Teilnehmer.
Die Besucher staunen, filmen oder fotografieren das aufregende, archaische und unterhaltsame Treiben. Es ist ein Gepolter, Trubel und Klamauk zugleich. Die Rösschen und Reiter posieren gerne. Sie wiehern, und es gibt mal einen Jutz oder Jodel. Ohs und Ahs hört man allenthalben. Was für eine Reitsportveranstaltung mitten im Winter und im Freien!
Die Lederzügel – mit Messing beschlagen – geben die Reiterinnen und Reiter nie aus der Hand. «Good boy!», wird ein Ross gelobt. Ohne Gerte und Sporen werden die Holzrösser geführt. Kommandos wie hü, hoo, hott oder brr, hört man ebenso wie das Schnalzen der Zunge.
Bild: Urs Oskar Keller
Wie entstand der «Botzerössli»-Brauch?
Der Brauch ist im Appenzellerland schon für das Jahr 1837 belegt. Damals hat der Ausserrhoder Titus Tobler (1806–1877) in seinem appenzellischen Mundartwörterbuch dazu geschrieben: «Fasnachtsnarr, welcher, auf einem hölzernen Pferde dem Anscheine reitend, vor jeder Fasnacht herumbettelt, und einen Spruch vor den Häusern, von schaulustigen Kindern umringt, in eigener Monotomie hält.» Wir haben es hier mit einem typischen Heischebrauch zu tun, den man andernorts auch antrifft. Die Ursprünge dieses Spruches sieht der Mundartforscher in Schwaben. Bekannt sind die «Fasnetsbutzarössle» in der oberschwäbischen Stadt Weingarten, die anfangs des 19. Jahrhunderts belegt und möglicherweise als Karikierung der französischen Herrschaft unter Napoléon Bonaparte gedacht sind. Auch an der Basler Fasnacht existieren «D Junte-Ressle».
Noch 1939 soll in Appenzell ein armer Mann in einem einfachen Holzrössli unterwegs gewesen sein, hätte Sprüche aufgesagt und für sich gesammelt, kann im «Altdorf-Weingärner Museumsblättle» von 2011 gelesen werden. Nach Dr. med. Robert Steuble (1907–1994), Ersteller von Innerrhoder Tageschroniken, gab es 1948 erstmals die Fasnachtszeitung «'s Innerrhoder Botze-Rössli». Der Appenzeller Historiker Achilles Weishaupt glaubt, dass in dieser Zeit der Brauch in Appenzell wieder belebt worden sein dürfte, durch den «Rösseler» Edi Broger (1911–1984), langjähriger Mesmer im Ahorn, einer Wallfahrtsstätte am Fusse der ersten Alpsteinkette. Eine treffende Skizze dazu lässt sich in der Februar-Ausgabe des «Anzeigers vom Alpstein» finden. Vor der Fasnacht von 1999 erfuhren die Botzerössli durch den Fasnachtsverein Appenzell eine erneute Wiederbelebung. Sie eröffnen immer am Vorabend des Schmutzigen Donnerstags die Fasnacht, nehmen an diesem Tag am Fasnachtsumzug der Kinder teil und am darauf folgenden Samstag am grossen Umzug.
Bild: Urs Oskar Keller
Was bedeutet der Name Botze?
Was bedeutet der Name Botze? Historiker Weishaupt denkt bezüglich der Wortbedeutung an den Butz, also an jemanden, der sich «verbutzt», also verkleidet. Im schweizerdeutschen Wörterbuch «Idiotikon» ist dieser Brauch unter der Schreibweise «Butze(n)rössli» zu finden.
Achilles Weishaupt macht seit 2015 in diesem losen «Botzerössli»-Verein mit. Erstmals trat er in jenem Jahr am 9. August am «Marché-Concours National de Chevaux» in Saignelégier auf, wo die beiden Appenzeller Kantone als Ehrengäste eingeladen worden waren. «Ich bin sonst kein Fasnächtler, aber als ‹Botzerössli› mache ich gerne mit, auch ausserhalb von Appenzell.» Nächste Auftritte ausserhalb von Appenzell sind geplant an Anlässen des Europäischen Kultur- und Brauchtumstreffen in Altstätten, das vom 14. bis zum 17. Februar 2019 dauern wird . (uok)
Bild: Urs Oskar Keller
Von Appenzell nach Krakau
Das Ethnographische Museum in der polnischen Stadt Krakau hat 2014 eine sehr schöne Publikation zu diesen Reiterfiguren in Europa gemacht. Leider ist das Buch nur auf Polnisch erschienen. Die Ausstellung ist 2014 in Krakau durchgeführt worden, weil der Lajkonik – das ist das Krakauer Pendant zum Botzerössli; dort ist es ein mongolischer Reiter, der an die Tatarenüberfälle auf die Stadt erinnert – ein Wahrzeichen der Stadt Krakau ist. In keiner der berühmten Krakauer Weihnachtskrippen darf deshalb ein Lajkonik fehlen. «Wir hatten 2011 eine Ausstellung mit Krakauer Krippen im Museum Appenzell. Seither besteht diese Lajkonik-Botzerössli-Freundschaft zwischen Krakau und Appenzell», freut sich Roland Inauen, der Leiter des Museums.
Urs Oskar Keller (*1955) ist Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Landschlacht.
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