Eines kann man Bundesrat Alain Berset nicht vorwerfen: fehlende Standhaftigkeit. Auch an Selbstvertrauen mangelt es ihm nicht. Nur so konnte er Krisen überstehen, die andere das Amt gekostet hätte.
Berset tritt ab. Nach 12 Jahren wird er den Bundesrat verlassen. Das verkündete er am Mittwoch, 21. Juni, an einer Pressekonferenz, in der er auch die Medien kritisierte. Zum Teil auch jene Medien, die er selbst – oder seine Stabsangestellten – benutzen.
Es hat etwas von Leichenfledderei. Kaum verkündet ein Bundesrat seinen Rücktritt, werden die Nachfolgerinnen und Nachfolger ins Spiel gebracht. Da wirkt einer rund 12 Jahre in der Landesregierung, sagt innerhalb einer halbstündigen Pressekonferenz, was er so toll gemacht hat und – auf Nachfragen der Journalisten – was nicht, tritt vom Rednerpult, wird beim Abgang für die morgige Print-Ausgabe entsprechend fotografiert und dann war es das.
Nicht so bei Alain Berset. Oder fast nicht. Der Mann verkündet nicht seinen Rücktritt, sondern sein «Nichtantreten» bei der nächsten Wahl. Er gibt seiner Partei ordentlich Zeit, den passenden Nachfolger (oder wird es doch eine Nachfolgerin?) zu finden. «Ein Mensch muss es sein», sagt Berset und macht damit einen Seitenhieb auf Ueli Maurer, der kein «Es» (der Film ist nicht gemeint), im Bundesrat sehen will.
Berset war vieles – und wird das auch in den nächsten Monaten nochmals ordentlich in Szene setzen. Er ist Borsalino-Träger (das ist ein Hut) und zeigt sich damit gerne vor den Fotografen. Er ist gewissermassen auch ein Model. Ein Fotoband über ihn entstand ausgerechnet während der Corona-Zeit. Da setzte ihn Nicolas Brodard ordentlich in Szene und scheute die Nähe nicht – «Er spürte meinen Atem an seinem Hals». Er ist auch Pilot und löste damit – unverschuldet muss man sagen – einen französischen Luftwaffeneinsatz aus.
Er ist in erster Linie auch einfach eine starke Figur – und das wohl in der «richtigen» Partei. SVP-Politiker hätte es längst das Amt gekostet, würden sie für eine Klimakorrektur predigen und würden gleichzeitig im Privatflugzeug durch die Lüfte düsen. Oder, sie würden das Familienmodell hochloben und sich kurz darauf mit der Staatslimousine in den Schwarzwald zur Geliebten kutschieren lassen. Oder sie würden sich mehrmals dagegen wehren, eine klare Stellung zu einer Amtsgeheimnisverletzung im eigenen Departement zu beziehen. Oder, oder, oder.
Man muss aber dennoch sagen, dass Berset die Schweiz eigentlich ganz ordentlich durch die Corona-Phase gebracht hat. Klar melden sich jetzt all jene in den Kommentarspalten, die sagen: «Endlich geht er». Aber Berset – und das muss man einfach sehen – war auch für viele Schweizerinnen und Schweizer eine wichtige Stütze in einer sehr unsicheren Zeit.
Rückblickend wissen es alle besser. Rückblickend könnte man dem Mann den Strick ziehen. Aber jene, die das tun wollen, sollten sich auch die Frage stellen: «Wie hätte ich an seiner Stelle gehandelt?».
Berset war/ist ein Bundesrat mit Ausstrahlung – und mit Fehlern. Selten hat man das bei einer Staatsfigur so stark mitbekommen. Es macht ihn menschlich – und angreifbar.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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