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Reorganisation | Chance fürs Bundesgericht

Bundesgericht erhält weitere Abteilung – eine Chance, die Arbeit kantonaler Gerichte kritischer zu prüfen

Anno 2022 gingen beim Bundesgericht 7392 neue Beschwerden ein, fast 500 weniger als noch 2021. Entschieden wurden demgegenüber 7138 Fälle, fast 400 weniger als 2021. Weniger Entscheide trotz weniger Fälle?

Artur Terekhov am 04. Juli 2023

Rasch ist von faulen Richtern die Rede. Gewiss besteht auch die Versuchung, bei weniger Arbeit weniger speditiv zu arbeiten. Doch in Bezug auf das Bundesgericht wäre diese Kritik allzu pauschal, gilt es doch zu berücksichtigen, dass dieses bis vor Kurzem nur 38 vollamtliche Richterstellen hatte; neu sind es deren 40 (ohne nebenamtliche Bundesrichter, die punktuell hinzugezogen werden). Bei gerundet 7400 Fällen pro Jahr macht dies 185 Fälle pro verantwortlichen Richter und Jahr bzw. rund 0.8 Fälle pro Richter und Arbeitstag. Auch wenn eine nicht unerhebliche Anzahl von Beschwerden rein formell erledigt wird, weil beispielsweise der Vorschuss für die Gerichtskosten nicht bezahlt wird oder eine Beschwerde prozessual in concreto gar nicht zulässig ist, handelt es sich nach wie vor um eine hohe Arbeitslast, wenn man Fälle im Dienste der Bürgerinnen und Bürger seriös behandeln und nicht einfach im Zweifel die Beschwerde abweisen will, weil hierfür der Aufwand geringer ist. Schon länger macht das Wort der «Gerichtsschreiberjustiz» die Runde, wonach ein erheblicher Teil der Urteile tel quel dem Entwurf eines Gerichtsschreibers entspricht, der von Gesetzes wegen (eigentlich) nur beratende Stimme hätte. Dass das Zürcher Verwaltungsgericht, eine obere kantonale Instanz des öffentlichen Rechts, sich in diese Richtung bewegt, hat beispielsweise Tamara Nüssle (SP), eine dortige Richterin, gegenüber der «Republik» bereits vor vier Jahren kritisiert.

Dass das Bundesgericht zwei neue Vollzeit-Richterstellen erhalten hat, ist damit enorm wichtig. Es hat auch die vorliegend beleuchtete interne Reorganisation per 1. Juli 2023 bewirkt. Neu besteht das Bundesgericht nämlich nicht mehr aus sieben Abteilungen, sondern deren acht (à je 5 Richter und Richterinnen). Neu eingeführt wird eine Zweite Strafrechtliche Abteilung, die insbesondere die I. öffentlich-rechtliche Abteilung entlastet, die bis anhin auch für Beschwerden gegen strafprozessuale Zwangsmassnahmen (Hausdurchsuchungen, Entsiegelungen, etc.) zuständig war.

Damit hat auch das Strafrecht erstmals zwei Abteilungen – was dringend nötig ist, geht es bei strafrechtlichen Sanktionen doch häufig um massive Eingriffe in die Grundrechte des Einzelnen. Und genauso wie staatliche Schnüffelei ohne konkreten Anfangsverdacht («without proper warrant») unzulässig ist, verbieten sich Verurteilungen in Verletzung der Unschuldsvermutung. Logischerweise: Mord und Totschlag kommen in der Schweiz glücklicherweise relativ selten vor. Und bei selteneren Fällen, wo es um langjährige Gefängnisstrafen geht, schauen Gerichte tendenziell auch genauer hin. Zu erinnern gilt es aber daran, dass Strafrecht sich oftmals im Bereich der niederschwelligen (Massen-)Delinquenz abspielt. Teilnahme an unbewilligten Demos, Alkohol- oder Geschwindigkeitsverfehlungen im Strassenverkehr, konsumierte Joints oder Partydrogen. Schnell mögen da manche – insbesondere law-and-order-mässig gesinnte – Staatsanwälte und Richterinnen geneigt sein, derartige 0815-Fälle nach Schema F zu behandeln. Umso wichtiger ist es, dass just bei jener niederschwelligen Delinquenz die Regeln eines fair trial eingehalten werden – wofür es enorm wichtig ist, dass Betroffene ein Urteil weiterziehen können. Denn gerade bei Bagatelldelikten geht es oft um Leute, die – im Gegensatz zu notorischen Wiederholungstätern – mit beiden Beinen im Leben stehen und für die nicht nur eine Gefängnisstrafe, sondern bereits ein Strafregistereintrag nachteilig ist.

Das – von der zum K-Tipp-Verlag gehörenden juristischen Fachzeitschrift «plädoyer» gekürte – Fehlurteil des Jahres 2022 stammte aus dem Strafrecht (BGer 1B_535/2021). Darin entschied das Bundesgericht allen Ernstes, dass eine Person bei der Hausdurchsuchung nicht zwingend auf ihr verfassungsmässiges Recht zu schweigen hingewiesen werden muss, wenn man diese informell nach dem PIN-Code ihres Handys fragt. Vielmehr reiche ein informelles Gespräch, um die dadurch erlangten Handydaten legal auswerten und hernach gegen die beschuldigte Person verwenden zu können. «Sie müssen sich nicht selbst belasten» kennt man an sich als Aussage aus jedem mittelmässigen Krimifilm. Das Bundesgericht seinerseits hat in jenem Urteil indes einen Irrweg eingeschlagen. Zu hoffen ist, dass die Aufstockung der Richterstellen im Bereich des Strafrechts die Qualität der Rechtsprechung maximiert – und blinde Law-and-Order-Entscheide minimiert.

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Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

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