logo

Gastkommentar

BVG-Reform: Schwelleneffekte und gewerkschaftliche Illusionen

Das Parlament hat sich bei der Reform der beruflichen Vorsorge offensichtlich verspekuliert. Die Vorlage des Bundesrats entsprach noch 1:1 dem Kompromiss zwischen den Sozialpartnern, d.h. zwischen dem Schweizerischen Arbeitgeberverband und den Gewerkschaften.

Thomas Baumann am 15. März 2023

Sind sich beide Seiten - Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände - einig, dann stehen die Chancen ausserordentlich gut, dass ein solcher Kompromiss auch beim Stimmvolk durchkommt. Eine grössere "grosse Koalition" in sozialpolitischen Fragen als diese ist schliesslich kaum denkbar.

Die eidgenössischen Räte wichen in ihren Beratungen jedoch in wesentlichen Punkten von diesem Kompromiss ab. Mit dem bekannten Resultat: Die gewerkschaftliche Linke hat bereits das Referendum angekündigt - und auch der Bauernverband und die Gastrobranche sind voraussichtlich gegen das Reformpaket. Der Grund dafür ist klar: Diese beiden Branchen sind Tieflohnbranchen, mit vielen Temporär- und Teilzeitarbeitskräften. Bei diesen steigen infolge der Pensionskassen-Reform die Lohnnebenkosten prozentual am stärksten - was natürlich nicht im Interesse der Patrons ist.

Wenn aber sowohl Linke und Gewerkschaften wie auch Teile des Gewerbes dagegen sind, dann ist eine Abstimmung eigentlich nicht mehr zu gewinnen. Das Parlament hat hier ganz unnötig einen bereits vereinbarten Kompromiss auf's Spiel gesetzt.

In grossen Zügen ähneln sich die beiden Vorlagen - diejenige der Sozialpartner wie des Parlaments: neben einem tieferen Rentenumwandlungssatz, mit dem das angesparte Alterskapital in eine Rente umgerechnet wird, wollen beide die altersbedingte "Progression" bei den Lohnbeitragssätzen für die berufliche Vorsorge brechen. Steigt diese derzeit von 7% bei den 25-34-Jährigen auf bis zu 18% bei den über 55-Jährigen an, sollen in Zukunft nur noch zwei Beitragssätze zur Anwendung kommen: 9 Prozent vor und 14 Prozent nach dem 45. Geburtstag. Damit werden die Lohnnebenkosten bei den älteren Arbeitnehmern gesenkt und diese somit attraktiver auf dem Arbeitsmarkt.

Ebenso sehen beide Vorlagen einen Rentenzuschlag für eine Übergangsgeneration während 15 Jahren und eine Absenkungen der Eintrittsschwelle und des Koordinationsabzugs vor. Beide leiden jedoch an Konstruktionsfehlern. Im Vorschlag der Sozialpartner wird das Geld gewissermassen mit der Giesskanne verteilt: Die ersten fünf Jahrgänge der Übergangsgeneration erhalten jeweils 200 Franken pro Rentenbezieher und Monat, die zweiten fünf Jahrgänge 150 und die letzte Fünfjahreskohorte noch 100 Franken im Monat - völlig unabhängig von der Höhe ihrer Pensionskassen-Rente.

Ganz im Gegensatz zu dieser unterschiedslosen Grosszügigkeit muss hingegen peinlich genau das "Kleingedruckte" beachten, wer in den Genuss eines solchen Rentenzuschlags kommen will: diesen gibt es nämlich nur für diejenigen, die während mindestens 15 Jahren im BVG versichert und die letzten zehn Jahre vor dem erstmaligen Rentenbezug ununterbrochen in der Schweiz AHV-pflichtig waren. Wer also nur 14 Jahre versichert war oder aus irgendeinem Grund sein Glück in den letzten zehn Jahren im Ausland versuchte, schaut in die Röhre. Bei einer durchschnittlichen Restlebenserwartung von über 21 Jahren zum Zeitpunkt der Pensionierung und einem Rentenzuschlag von 200 Franken pro Monat geht es dabei immerhin um gut 50'000 Franken.

In der Frage des Koordinationsabzugs leidet dafür der parlamentarische Vorschlag unter unerwünschten Schwelleneffekten. Während beim Vorschlag der Sozialpartner auf den ersten +/- 1000 Franken Lohn pro Monat (umgerechnet auf einen Monat bei konstanter Erwerbstätigkeit - im Gesetz selbst sind Jahreswerte definiert) kein BVG-Abzug vorzunehmen ist und erst Einkommen, welches diesen Schwellenwert übersteigt, dem Lohnbeitragssatz von 9 bzw. 14 Prozent unterliegt, sind beim Vorschlag des National- bzw. Ständerats (hier gibt es noch eine Differenz) die ersten 1500-1800 Franken Lohn pro Monat nicht BVG-pflichtig.

Doch wehe, der Lohn übersteige am Ende des Jahres diesen Betrag auch nur um einen einzigen Franken. Denn dann unterliegen "rückwirkend" 80-85% der bisher ausbezahlten Lohnsumme (auch hier besteht noch eine Differenz zwischen National- und Ständerat) ebenfalls dem BVG-Obligatorium - und nicht bloss das zusätzliche Einkommen. Im schlechtesten Fall muss ein Arbeitgeber für einen Franken "zu viel" Lohn auf einen Schlag zusätzliche Lohnnebenkosten von rund 2500 Franken tragen.

Mit solchen Schwelleneffekten wird Arbeitgebern ein klarer Anreiz gegeben, kleine Arbeitspensen und den damit verbundenen Lohn auf gar keinen Fall über die Eintrittsschwelle (der Versicherungspflicht) hinaus auszudehnen. Zumindest nicht bloss "ein wenig". Dass dies ausgerechnet im Rahmen von Beratungen geschieht, die u.a. eine Erhöhung kleiner Altersrenten zum Ziel haben, mutet wie ein schlechter Scherz an: Sind doch kleine Teilzeitpensen gerade einer der Hauptgründe für eine ungenügende Absicherung im Alter.

Mehr als widersprüchlich bleibt letztlich auch die Position der Gewerkschaften: Jahrelang beklagte man sich dort über zu tiefe Pensionskassen-Renten von Teilzeitangestellten, insbesondere Frauen. Doch jetzt, wo diese erhöht werden sollen, ist es auch wieder nicht recht: Wegen der höheren BVG-Abgaben verteuerten sich die Lohnnebenkosten, wodurch diese Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt unattraktiver würden, klagen die Gewerkschaften.

Aber man kann nicht das Weggli und den Fünfer haben: Eine höhere Pensionskassen-Rente und tiefe Lohnnebenkosten. Es führt kein Weg daran vorbei: Wer eine höhere Rente will, muss letztlich mehr in die berufliche Vorsorge einzahlen, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer. Höhere Lohnnebenkosten sind eine unvermeidliche Folge davon.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.