Das Parlament hat sich bei der Reform der beruflichen Vorsorge offensichtlich verspekuliert. Die Vorlage des Bundesrats entsprach noch 1:1 dem Kompromiss zwischen den Sozialpartnern, d.h. zwischen dem Schweizerischen Arbeitgeberverband und den Gewerkschaften.
Sind sich beide Seiten - Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände - einig, dann stehen die Chancen ausserordentlich gut, dass ein solcher Kompromiss auch beim Stimmvolk durchkommt. Eine grössere "grosse Koalition" in sozialpolitischen Fragen als diese ist schliesslich kaum denkbar.
Die eidgenössischen Räte wichen in ihren Beratungen jedoch in wesentlichen Punkten von diesem Kompromiss ab. Mit dem bekannten Resultat: Die gewerkschaftliche Linke hat bereits das Referendum angekündigt - und auch der Bauernverband und die Gastrobranche sind voraussichtlich gegen das Reformpaket. Der Grund dafür ist klar: Diese beiden Branchen sind Tieflohnbranchen, mit vielen Temporär- und Teilzeitarbeitskräften. Bei diesen steigen infolge der Pensionskassen-Reform die Lohnnebenkosten prozentual am stärksten - was natürlich nicht im Interesse der Patrons ist.
Wenn aber sowohl Linke und Gewerkschaften wie auch Teile des Gewerbes dagegen sind, dann ist eine Abstimmung eigentlich nicht mehr zu gewinnen. Das Parlament hat hier ganz unnötig einen bereits vereinbarten Kompromiss auf's Spiel gesetzt.
In grossen Zügen ähneln sich die beiden Vorlagen - diejenige der Sozialpartner wie des Parlaments: neben einem tieferen Rentenumwandlungssatz, mit dem das angesparte Alterskapital in eine Rente umgerechnet wird, wollen beide die altersbedingte "Progression" bei den Lohnbeitragssätzen für die berufliche Vorsorge brechen. Steigt diese derzeit von 7% bei den 25-34-Jährigen auf bis zu 18% bei den über 55-Jährigen an, sollen in Zukunft nur noch zwei Beitragssätze zur Anwendung kommen: 9 Prozent vor und 14 Prozent nach dem 45. Geburtstag. Damit werden die Lohnnebenkosten bei den älteren Arbeitnehmern gesenkt und diese somit attraktiver auf dem Arbeitsmarkt.
Ebenso sehen beide Vorlagen einen Rentenzuschlag für eine Übergangsgeneration während 15 Jahren und eine Absenkungen der Eintrittsschwelle und des Koordinationsabzugs vor. Beide leiden jedoch an Konstruktionsfehlern. Im Vorschlag der Sozialpartner wird das Geld gewissermassen mit der Giesskanne verteilt: Die ersten fünf Jahrgänge der Übergangsgeneration erhalten jeweils 200 Franken pro Rentenbezieher und Monat, die zweiten fünf Jahrgänge 150 und die letzte Fünfjahreskohorte noch 100 Franken im Monat - völlig unabhängig von der Höhe ihrer Pensionskassen-Rente.
Ganz im Gegensatz zu dieser unterschiedslosen Grosszügigkeit muss hingegen peinlich genau das "Kleingedruckte" beachten, wer in den Genuss eines solchen Rentenzuschlags kommen will: diesen gibt es nämlich nur für diejenigen, die während mindestens 15 Jahren im BVG versichert und die letzten zehn Jahre vor dem erstmaligen Rentenbezug ununterbrochen in der Schweiz AHV-pflichtig waren. Wer also nur 14 Jahre versichert war oder aus irgendeinem Grund sein Glück in den letzten zehn Jahren im Ausland versuchte, schaut in die Röhre. Bei einer durchschnittlichen Restlebenserwartung von über 21 Jahren zum Zeitpunkt der Pensionierung und einem Rentenzuschlag von 200 Franken pro Monat geht es dabei immerhin um gut 50'000 Franken.
In der Frage des Koordinationsabzugs leidet dafür der parlamentarische Vorschlag unter unerwünschten Schwelleneffekten. Während beim Vorschlag der Sozialpartner auf den ersten +/- 1000 Franken Lohn pro Monat (umgerechnet auf einen Monat bei konstanter Erwerbstätigkeit - im Gesetz selbst sind Jahreswerte definiert) kein BVG-Abzug vorzunehmen ist und erst Einkommen, welches diesen Schwellenwert übersteigt, dem Lohnbeitragssatz von 9 bzw. 14 Prozent unterliegt, sind beim Vorschlag des National- bzw. Ständerats (hier gibt es noch eine Differenz) die ersten 1500-1800 Franken Lohn pro Monat nicht BVG-pflichtig.
Doch wehe, der Lohn übersteige am Ende des Jahres diesen Betrag auch nur um einen einzigen Franken. Denn dann unterliegen "rückwirkend" 80-85% der bisher ausbezahlten Lohnsumme (auch hier besteht noch eine Differenz zwischen National- und Ständerat) ebenfalls dem BVG-Obligatorium - und nicht bloss das zusätzliche Einkommen. Im schlechtesten Fall muss ein Arbeitgeber für einen Franken "zu viel" Lohn auf einen Schlag zusätzliche Lohnnebenkosten von rund 2500 Franken tragen.
Mit solchen Schwelleneffekten wird Arbeitgebern ein klarer Anreiz gegeben, kleine Arbeitspensen und den damit verbundenen Lohn auf gar keinen Fall über die Eintrittsschwelle (der Versicherungspflicht) hinaus auszudehnen. Zumindest nicht bloss "ein wenig". Dass dies ausgerechnet im Rahmen von Beratungen geschieht, die u.a. eine Erhöhung kleiner Altersrenten zum Ziel haben, mutet wie ein schlechter Scherz an: Sind doch kleine Teilzeitpensen gerade einer der Hauptgründe für eine ungenügende Absicherung im Alter.
Mehr als widersprüchlich bleibt letztlich auch die Position der Gewerkschaften: Jahrelang beklagte man sich dort über zu tiefe Pensionskassen-Renten von Teilzeitangestellten, insbesondere Frauen. Doch jetzt, wo diese erhöht werden sollen, ist es auch wieder nicht recht: Wegen der höheren BVG-Abgaben verteuerten sich die Lohnnebenkosten, wodurch diese Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt unattraktiver würden, klagen die Gewerkschaften.
Aber man kann nicht das Weggli und den Fünfer haben: Eine höhere Pensionskassen-Rente und tiefe Lohnnebenkosten. Es führt kein Weg daran vorbei: Wer eine höhere Rente will, muss letztlich mehr in die berufliche Vorsorge einzahlen, Arbeitgeber wie Arbeitnehmer. Höhere Lohnnebenkosten sind eine unvermeidliche Folge davon.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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