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Bundesgericht

Covid-Quarantäne für Schulkinder als (angeblich) mildestes Mittel

Über zwei Jahre nach Aufhebung der Covid-Massnahmen äussert sich das Bundesgericht erstmals zur Rechtmässigkeit einer Quarantäneanordnung gegenüber Schulkindern. Seine Argumentation ist de iure kaum haltbar.

Artur Terekhov am 03. Juli 2024

Letzte Woche hat das Bundesgericht ein neues – in Fünferbesetzung gefälltes – Urteil veröffentlicht (BGer 2C_214/2023), das sich über zwei Jahre nach Aufhebung der Covid-Massnahmen mit einer Quarantäneanordnung gegenüber einer Schülerin aus dem Kanton Zürich im Januar 2021 auseinandergesetzt hat. Hintergrund war, dass das betroffene Mädchen im Januar 2021 mittels E-Mail-Mitteilung des kantonalen Contact Tracing für 10 Tage in Quarantäne – Verbot, die eigenen vier Wände zu verlassen – geschickt wurde, nachdem zwei ihrer Mitschüler positiv auf SARS-CoV-2 getestet worden waren. Da bis zur Mitteilung der Contact-Tracing-Stelle bereits vier Tage verstrichen waren, betrug die Quarantänedauer effektiv noch 6 Tage. Die Kindseltern verlangten eine anfechtbare Verfügung vom Amt für Gesundheit, gegen welche sie zunächst Rekurs bei der – von Natalie Rickli (SVP) mit ihren höchst fragwürdigen Aussagen über Ungeimpfte geleiteten – Gesundheitsdirektion erhoben und deren Entscheid sie hernach ans Verwaltungsgericht weiterzogen. Nachdem beide kantonalen Instanzen die Quarantäne für zulässig beurteilt hatten, gelangten sie – vertreten durch die Rechtsanwälte Lars Gerspacher und Nando Stauffer von May – ans Bundesgericht. Da es zu Covid-Quarantänen bis letzte Woche noch kein Grundsatzurteil gab und bei einer (zeitlich befristeten) Quarantäne ein Rechtsmittel bis vor Bundesgericht kaum je innert nützlicher Frist möglich wäre, wurde prozessual auf ein aktuelles und praktisches Rechtsschutzinteresse verzichtet und die Beschwerde des Schulkindes bzw. dessen Eltern inhaltlich behandelt. Dabei stellte sich nun auch das Bundesgericht auf die Seite der Staatsräson und beurteilte die Quarantäne für rechtmässig und insbesondere auch verhältnismässig.

Erinnert sei daran, dass Verhältnismässigkeit im Zusammenhang mit Grundrechtseingriffen (Art. 36 Abs. 3 BV) bedeutet, dass kein milderes Mittel besteht, um das anvisierte Ziel zu erreichen und (eigentlich) immer eine Interessenabwägung zu erfolgen hat. Und die Eltern bzw. deren Anwälte hatten mit guten Gründen diverse mildere Mittel vorgeschlagen, so etwa eine medizinische Überwachung nach Art. 34 EpG, regelmässiges Testen, Maskentragen ausserhalb des Hauses, Verbot der Nutzung von Kultur- und Sporteinrichtungen oder Kontaktverbot zu Risikogruppenangehörigen bzw. über 60-Jährigen (BGer 2C_214/2023, E. 9.3.1). Jener reichhaltige Blumenstrauss möglicher (milderer) Alternativen war für die II. öffentlich-rechtliche Abteilung des Bundesgerichts aber nicht ausreichend, weshalb das Gericht doch einige juristische Pirouetten vollziehen musste, um den angeordneten faktischen Hausarrest zu legitimieren.

Im Urteil liest man hierzu etwa folgendes: „Das Kontaktverbot von Personen über 60 Jahren und ein Mindestabstand zu Personen, die nicht im selben Haushalt leben, ist ebenfalls nicht wirksam: Zum einen kann beides nicht kontrolliert werden, zum anderen geht es darum, niemanden anzustecken und nicht nur besonders gefährdete oder alte Personen. Bei einer rasanten Verbreitung des Virus, wie es in der Zeit der Fall war, ist das Risiko, dass besonders vulnerable Personen nicht direkt von der ansteckungsverdächtigen Person infiziert werden, sondern von einer ihrer Kontaktpersonen, bevor diese selbst infiziert ist oder als ansteckungsverdächtig gilt, hoch […] Daher galt es, alle Kontakte von ansteckungsverdächtigen Personen zu unterbinden […] Zum repetitiven Testen sei in Übereinstimmung mit der Vorinstanz festgehalten, dass, wenn es eine derartige Infrastruktur zu diesem Zeitpunkt nicht gab, sie auch keine geeignete Alternative ist“ (BGer 2C_214/2023, E. 9.3.5). Damit aber ignoriert das Bundesgericht, was offensichtlich ist: nämlich, dass Covid-Tests nicht zwingend im Rahmen repetitiver (Pool-)Tests hätten erfolgen müssen, sondern auch Einzeltests auf eigene Kosten möglich gewesen wären. Doch nicht einmal eine Quarantänebefreiung durch einen selbst finanzierten Individualtest erscheint dem (insoweit irrational etatistischen) Bundesgericht als geeignetes milderes Mittel – und dies, obschon eine negativ getestete Person nachweislich gesund ist und diesfalls selbst das Mantra einer asymptomatischen Übertragung nicht ernsthaft gegen eine Wirksamkeit jener Alternative vorgebracht werden kann. Hinzu kommt, dass das Bundesgericht sich mit seiner Betonung, es gehe darum, niemanden anzustecken und alle Kontakte mit ansteckungsverdächtigen (nicht: infizierten) Personen zu verhindern, im Widerspruch zu seiner eigenen covid-bezogenen Rechtsprechung von Mitte 2021 steht, als es erstmals detaillierte Kriterien zur Beurteilung der Rechtmässigkeit epidemiologischer Grundrechtseinschränkungen aufgestellt hat: „Auch bei der Vermeidung technischer oder sonstiger menschenverursachter Risiken, welche aufgrund staatlicher Entscheide zugelassen werden, kann nicht ein Null-Risiko gefordert werden, sondern es ist gemäss dem Verhältnismässigkeitsprinzip nach dem akzeptablen Risiko zu fragen und eine Abwägung zwischen den involvierten Interessen vorzunehmen […] Dabei ist nicht nur auf die denkbaren worst-case-Szenarien abzustellen, sondern auch die Wahrscheinlichkeit dieser Szenarien zu berücksichtigen […] Umgekehrt müssen auch die negativen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen der Massnahmen berücksichtigt werden“ (BGE 147 I 450, E. 3.2.3 und 3.2.4). Hiervon spürt man im letztwöchigen Urteil aber rein gar nichts (mehr), wenn explizit betont wird, es gelte sämtliche Kontakte zu unterbinden, weshalb ein Kontaktverbot zu Risikogruppenangehörigen – das im Übrigen nicht mehr und nicht weniger gut kontrollierbar ist als die Einhaltung der Quarantäne – angeblich ebensowenig ein (taugliches) milderes Mittel sei wie die Vornahme von Einzeltests, mit denen man ja (eigentlich) seine fehlende Infektiosität problemlos nachweisen könnte.

Was die Gründe für diesen irrational strengen Massstab über zwei Jahre nach Covid-Massnahmenaufhebung sind, bleibt unklar. Geht es allenfalls darum, der Bevölkerung weiszumachen, der Hausarrest, wie er im ebenso freiheitsfeindlichen PMT – einem Erlass mit dem (vordergründigen) Ziel der Terrorbekämpfung – vorgesehen ist, sei gar nicht so schlimm? In diese Richtung deutet etwa folgender Urteilsauszug: „Anders als im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 wurden im Januar 2021 keine bundesweiten Schulschliessungen verordnet […] Es wurde zur Gewährleistung des Rechts auf ausreichenden Grundschulunterricht […] mithin auf Kollektivmassnahmen für Kinder verzichtet und Massnahmen gegen sie nur im Einzelfall angeordnet. Die Quarantäne erweist sich insofern als weniger einschneidend als die Schulschliessung“ (BGer 2C_214/2023, E. 9.4.1). Dies muss man sich zuerst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Gemäss dem höchsten Gericht der Schweiz soll ein zwangsweiser Hausarrest also allen Ernstes weniger schlimm sein als eine Schulschliessung. Diese Auffassung kann nur vertreten, wer unterstellt, dass Kinder – und deren Eltern untereinander – ausserhalb der staatlichen Volksschule keine (sonstigen) sozialen Kontakte pflegen. Damit erscheint das bundesgerichtliche Quarantäneurteil als Zeugnis einer intellektuellen Drosselung der Denkleistung bzw. eigentlicher juristischer Methodenleere. Zu hoffen bleibt, dass das Bundesgericht dereinst – sei es durch eigene kritische Selbstreflexion oder wenigstens infolge anderer personeller Zusammensetzung – auf seine Haltung zurückkommt und erkennt, dass sich von Verfassung wegen nicht die Freiheit des Einzelnen vor dem Staat rechtfertigen muss, sondern der staatliche Eingriff vor der Freiheit des Einzelnen.

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Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

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