logo

Leitartikel

Das Aufbäumen der totalen Hilflosigkeit

Was tut man, wenn man alles Mögliche versucht hat, aber nichts so richtig funktioniert? Man presst das bereits Getane durch einen Zufallsgenerator und nimmt das, was unten rauskommt, als neues Rezept. Willkommen bei der neuesten Massnahmenrunde des Bundesrats.

Stefan Millius am 10. Dezember 2021

Der Bundesrat hat ja bekanntlich den Föderalismus wiederentdeckt. Fleissig speist er bei den Kantonen Ideen ein, zu denen sich diese vernehmen lassen können. Anders als früher sogar mit einer Wirkung, die Kantone konnten in der Vergangenheit immerhin die absurdesten Ideen wie eine Prämie für Impfempfehlungen abschiessen. Da aber die Kantone inzwischen genau so panisch drauf sind wie der Bund, gibt die Mitsprache zu wenig Hoffnung Anlass.

Originell ist das, was der Bundesrat an Optionen bereithält seit Freitag, nicht. Es ist das, was die Medien – die ja offenbar ohnehin den Takt vorgeben – schon lange fordern. Die Landesregierung schlägt unter anderem vor, 2G einzuführen. Das war ja nur eine Frage der Zeit. Getestete, die sichersten Zeitgenossen überhaupt, sind lästig, vor allem, falls die Tests wieder kostenlos werden sollen. Was soll man mit diesen Leuten tun, die am ehesten ungefährlich sind, aber sich renitent nicht impfen lassen wollen? Dann doch lieber Zutritt in Restaurants, Kinos und so weiter nur für Geimpfte (die Lieblingskategorie des Bundesrats) sowie Genesene (eine völlig unklar definierte Gruppe).

Die Spielart 2G+, bei der sogar Geimpfte und Genesene sich vor dem Besuch zusätzlich testen lassen müssen, ist besonders kreativ. Ein Journalist fragte in der Tat, was das denn solle mit dem Test, bei Geimpften und Genesenen bestehe ja keinerlei Risiko mehr. Der Mann liest offenbar nicht mal die offiziell verfügbaren Statistiken. Er hält die Impfung immer noch für einen umfassenden Schutz vor Ansteckung, Erkrankung und Weitergabe des Virus. Erstaunlich.

Und dann gibt es noch die Variante 2G mit Maskenpflicht. Ungeimpfte bleiben draussen (das tun sie eigentlich bei allen Vorschlägen, darum geht es ja auch), Geimpfte und Genesene sind aber mit Maske unterwegs in den Lokalitäten, die ihnen vorbehalten sind. Das klingt schwer nach der Normalität, die uns einst versprochen wurde, sobald alle, die sich impfen lassen wollen, geimpft sind. Fast schon wie früher. Gut, ein Drittel der Leute darf nichts mehr, die anderen zwei Drittel müssen wieder Maske tragen, aber man sollte bescheiden sein mit den Erwartungen an die neue Normalität. Sie sieht nun einmal so aus, basta.

Mit einigen besonders originellen Vorschlägen, die eigentlich nur in einer staatlichen Verwaltung entstehen können, wird derweil munter weiter Stimmung gegen Ungeimpfte gemacht. Treffen sich Menschen in Innenräumen, soll die Anzahl auf fünf Personen beschränkt werden, sobald ein Ungeimpfter dabei ist. Der ist dann gewissermassen der Spielverderber, weil er eine grössere Anzahl Leute verhindert. Es gab mal eine Zeit, da hat sich die halbe Schweiz über ein Wahlplakat aufgeregt, auf dem ein schwarzes Schaf zu sehen war. Inzwischen werden schwarze Schafe am Laufband produziert.

Warum es angesichts der wundersamen Wirkung der Impfung eine Rolle spielt, ob ein Ungeimpfter auf vier, 40 oder 400 andere trifft, bleibt schleierhaft. Der Bundesrat liebt einfach möglichst konkrete Zahlenspiele, vor allem solche, die sich in der Realität gar nicht durchsetzen lassen. Man müsste vielleicht Aktien bei der Securitas kaufen, es wird viel zu tun geben, um bei Zusammenkünften von einem halben Dutzend Leute die bösen Ungeimpften zu enttarnen.

Auch die gute alte Homeoffice-Pflicht, die das Virus ja bekanntlich schon einmal völlig ausradiert hat, kommt wieder aufs Tapet. Die perfekte Gelegenheit also, zuhause so zu tun, als würde man arbeiten, während man in Wirklichkeit den Weihnachtsschmuck ums Haus aufhängt. Ach ja, ein Lockdown der Gastronomie steht auch noch zur Debatte, weil frühere Durchführungen so erfolgreich waren. Wir erinnern uns: Monsieur Berset vermutet einfach eine versteckte Gefahr in Restaurants, obwohl es dafür nach wie vor keinen Beleg gibt. Sein diffuses Gefühl muss reichen für eine weitere Variante, die eine ganze Branche zerstört. Bei Bundesratssitzungen klingt das vermutlich etwa so: «Wir haben keine Ahnung, was wir tun sollen, aber man erwartet, dass wir etwas tun, also schliessen wir doch einfach wieder die Restaurants.»

Staatlich unabhängigen Journalismus unterstützen: So geht es.

Und nun doch noch im Ernst: Der Bundesrat wildwuchert im gleichen Stil, in dem er seit bald zwei Jahren fuhrwerkt. Völlig willkürlich schnürt er ein Bündel an Vorschlägen und wirft sie in die Runde, als ginge es darum, in einer basisdemokratischen Debatte auszujassen, wo das diesjährige Weihnachtsessen einer Firma stattfindet. Gemessen an der angeblichen Jahrhundertpandemie, der grössten Krise in der Schweiz seit dem 2. Weltkrieg, staunt man schon über das Potpourri an Ideen, zu denen sich die Kantone nun auslassen können. Bisschen mehr von dem, etwas weniger vom anderen? Würde es wirklich eine Rolle spielen, gäbe es gar nicht erst ein Auswahlverfahren. Wäre es wirklich ernst, hätten wir keine Optionen.

Man tue in der Schweiz nur immer das wirklich Nötige und bloss nie zu viel an Massnahmen, befand Berset sinngemäss vor den Medien. Da ist er nun doch etwas zu bescheiden. Inzwischen reicht es ja, dass eine (offenbar immer noch unterbeschäftigte) Spitalbelegschaft mit Steuergeldern ein Panikvideo dreht, und schon rattert das Massnahmenkarussell wieder. Hat eigentlich jemals jemand hinterfragt, warum in Spitälern, die hoffnungslos überlastet sind, Zeit und Geld vorhanden ist, um professionelle Videos zu drehen?

Es geht längst nicht mehr um zu viel oder zu wenig. Es geht um die Frage, ob überhaupt irgendetwas davon nötig ist – und ob überhaupt irgendetwas davon irgendeinen Sinn macht. Da man die Frage aber nicht stellen darf, existiert sie nicht.

Nichts spricht dafür, dass das Jahr 2022 anders aussehen wird. Der neue Bundespräsident Ignazio Cassis ist gemessen an seinen ersten Äusserungen auch ein Anhänger der blinden Unverhältnismässigkeit und des Stocherns im Nebel. Es wird also nicht besser werden. Die Antwort heisst weiterhin: Lasst uns mehr tun von dem, was nichts bringt und auf gut Glück noch ein paar andere Dinge ausprobieren.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.