Laura Bucher: «Ich schätze es sehr, dass ich in meinem persönlichen Umfeld immer noch die ‘Laura’ bin.» (Bild: Bodo Rüedi)
Die St.Galler SP-Regierungsrätin hat aufgehört, unsere Publikation zu lesen. Zum Interviewtermin empfängt sie «Die Ostschweiz» trotzdem. Ein Gespräch über «problematische Stossrichtungen», eine Region mit Nachholbedarf und einen Job wie jeder andere.
Laura Bucher, lesen Sie unsere Publikation überhaupt noch?
Ehrlich gesagt nicht mehr, nein. Früher gehörte ich noch zu den regelmässigen Leserinnen.
Also ein bewusster Boykott?
Es ist mir natürlich schon aus Zeitgründen nicht möglich, alles zu lesen, was erscheint. Das ist der Hauptgrund. Aber ich habe gewisse Berichterstattungen von ihnen rund um die Corona-Thematik schon problematisch gefunden. Ich habe die Publikation als Teil einer Bewegung wahrgenommen, die heiklen, ja gefährlichen Positionen eine Plattform bietet. Grundsätzlich steht es aber natürlich jedem Medium frei, sich in der einen oder anderen Form zu positionieren.
Das Thema Corona findet in der von Ihnen kritisierten Form bei uns inzwischen nicht mehr statt. Haben Sie das mitbekommen?
Nein.
Sie dürften allenfalls schon vorher keine Freude an uns gehabt haben. Auch die SP wurde und wird von uns immer mal wieder kritisiert…
Ich schätze die kritische Berichterstattung, darum habe ich Ihre Publikation ja auch gelesen. Ich fand «Die Ostschweiz» immer auch schnell und aktuell – und es gab kritische Kommentare der Redaktion zu vielen Themen. Diese Art des Online-Journalismus erhöht die Meinungsvielfalt.
Ist es das, was für Sie gute Medien ausmachen?
Ja. Und ihre Unabhängigkeit.
Wie haben Sie diese Unabhängigkeit in Ihrer politischen Laufbahn bisher erlebt? Als Politikerin oder Politiker muss man sich ja wahrscheinlich ziemlich gut mit den Journalisten stellen, um weiterzukommen…
Soweit würde ich nicht gehen, nein. Für die Politik ist der kritische Spiegel, den einem die Presse vorhält, wichtig. Und der Journalismus holt sich umgekehrt viele Themen in der Politik. Es gibt verschiedene Wechselwirkungen. Für die Regierung ist es wichtig, dass wir eine vielfältige Medienlandschaft haben, in der wir auch unsere Botschaften kommunizieren und zur Diskussion stellen können.
Trotzdem: es hätte mich nicht erstaunt, hätten Sie mir auf meine Interviewanfrage eine Absage erteilt. Haben Sie sich das überlegt?
Nein. Ich möchte kein Medium grundsätzlich benachteiligen.
Sie müssen quasi mit mir reden?
Ich freue mich sehr, mit Ihnen dieses Gespräch zu führen. (lacht)
Es ist auch schön, eine Plattform zu erhalten. Das ist wichtig.
Was würde mehr Emotionen bei Ihnen hervorrufen, eine Lobeshymne oder ein totaler Verriss?
Das ist dem Schreibenden überlassen. Überraschen würde mich beides. Ich habe den Eindruck, solide Arbeit zu verrichten. Aber natürlich gibt es immer Sachen, die man kritisieren kann.
Zum Beispiel?
Allenfalls, dass es in gewissen Bereichen zu wenig rasch vorwärts geht.
Die Behäbigkeit des gesamten Staatsapparats bremst den Tatendrang?
Das tönt jetzt zu negativ. Politische Prozesse benötigen ihre Zeit. Das hat auch einen grossen Vorteil. Die Entscheidungen sind ausgereift und breit abgestützt. Schnellschüsse werden verhindert. Unter dem Strich ist das eine gute Sache. Dieses Amt mit dem Gefühl anzutreten, man könnte alles in kürzester Zeit verändern, wäre blauäugig. Ich bin lange genug in der Politik, um das zu wissen.
Laura Bucher: «Ich schätze es sehr, dass ich in meinem persönlichen Umfeld immer noch die ‘Laura’ bin.» (Bild: Bodo Rüedi)
Bewundern Sie Politikerinnen und Politiker, die es dauernd schaffen mit ihren Themen – ob nun relevant oder nicht – ins Rampenlicht zu kommen?
Mein Ziel ist es nicht, im Rampenlicht zu stehen und mich perfekt darzustellen. Mein Ziel ist, etwas für die Menschen zu erreichen, die in diesem Kanton leben.
Das wäre ein schöner Schlusssatz. Wir sind aber noch nicht am Ende. Sie selbst wurden 2020 mit jungen 35 Jahren in den St.Galler Regierungsrat gewählt. Mit 35 Jahren sind bzw. waren so manche von uns entweder voll im Saft oder dann in einer Findungsphase. Ganz ehrlich: Hatten Sie niemals Zweifel, ob es der richtige Weg ist?
Entsprechende Fragen habe ich mir selbstverständlich gestellt. Gerade auch zusammen mit meiner Familie – ich habe zwei Kinder im Vorschulalter. Wir sind dann zum Schluss gekommen, dass sich so eine Chance nur einmal bietet und ich sie packen muss.
Mitunter eine amtierende Bundesrätin hat bewiesen, dass sich trotz anfänglicher Absage doch noch eine zweite Chance bieten kann…
Der Job der Regierungsrätin ist sehr reizvoll. Das habe ich schon gesehen, als ich noch im Kantonsrat politisiert habe. Ich kam zum Entschluss, dass ich nach zehn Jahren im Parlament mit Erfahrungen aus dem Fraktionspräsidium und mit meiner Ausbildung die nötigen Voraussetzungen für das Amt mitbrachte.
Kann man diesen Weg in gewisser Weise vorspuren – etwa, indem man nicht als Scharfmacherin in Erscheinung tritt?
Ich denke nicht, nein. Mir persönlich ist es wichtig, stets authentisch zu bleiben. Daran halte ich mich immer.
Hat sich Ihr Umfeld verändert? Werden Sie als «andere» Person behandelt?
Glücklicherweise nicht. Ich schätze es sehr, dass ich in meinem persönlichen Umfeld immer noch die «Laura» bin – Freundin, Mutter, Nachbarin, Berufskollegin etc. Ich habe weniger Zeit für meine Freunde und meine Familie, das ist die grösste Veränderung. Aber ansonsten war ich es mir schon immer gewohnt, in der Öffentlichkeit zu stehen. Politik gehörte schon immer zu meinem Leben.
Sucht man Bewunderung?
Nein, aber ich habe gerade auch in den schwierigen Corona-Zeiten sehr viel Zuspruch erhalten, das war schön. Mir dankten Personen, mit denen ich mich vorher nie über politische Fragen ausgetauscht habe, dafür dass ich diesen Job mache. Selbst solche, die nicht mit allen Entscheidungen einverstanden waren. Aber Bewunderung? Es ist ein Job wie jeder andere. Einfach einer, der mit gewissen Besonderheiten verbunden ist.
Corona begleitet Sie schon während Ihrer gesamten Tätigkeit als Regierungsrätin.
Korrekt. Eine herausfordernde Phase, sowohl für uns als Regierung als auch für jedes einzelne Team in der Verwaltung. Der Vorteil war, dass wir alle sehr schnell zusammen funktionieren mussten. Wir sind innerhalb kurzer Zeit zusammengewachsen.
Was forderte Sie am meisten?
Es war mir immer ein Anliegen, dass alle Menschen, Institutionen oder Organisationen gut durch diese Krise kommen. Das haben wir mit verschiedenen Massnahmen gut hingekriegt. Die gesamte Corona-Pandemie hat aber viele Ressourcen gebunden, die nicht für andere Projekte eingesetzt werden konnten. Allgemein ist der Umgang mit den knappen Ressourcen – es herrscht faktisch ein Stellenstopp in der Verwaltung – eine Herausforderung. Wir müssen uns auf diverse Umbrüche wappnen. Ich denke da an die gesamte demografische Entwicklung, die Digitalisierung, Weiterentwicklungen im Alters- und Behindertenbereich, Diversität usw.
Gewisse Entwicklungen wurden durch Corona beschleunigt.
Ja, positiv war meiner Ansicht nach beispielsweise, dass die Pflegebranche im Fokus stand. Endlich diskutieren wir die herrschenden Arbeitsbedingungen und die Nachwuchsprobleme. Solche Anliegen erhielten durch die Pandemie mehr Sichtbarkeit. Letztlich führte unter anderem das auch zur Annahme der Pflegeinitiative.
Zum Vorschein kam auch eine Art «Stadt/Land-Graben». Die St.Galler SVP lancierte kürzlich einen Vorschlag: eine Art «Ständemehr» auf kantonaler Ebene. Den Gemeinden soll mehr Bedeutung zukommen. Ihre Partei kritisiert dieses Anliegen scharf. Teilen Sie diese Kritik?
Die Haltung der Regierung zu dieser Frage ist klar: es kann nicht sein, dass die Stimmen von einigen Bürgerinnen und Bürgern mehr Gewicht erhalten als andere. Unabhängig davon müssen wir uns aber mit den grossen Unterschieden zwischen den Gemeinden in unserem Kanton befassen, Chancengleichheit sieht anders aus.
Die Gemeinden gehören zu Ihrem Aufgabengebiet. Werden Sie hier nicht mit den unterschiedlichsten Anliegen und Ansprüchen konfrontiert? Wo können Sie sich spiegeln, ob Sie jeweils den richtigen Weg einschlagen?
Ein wichtiges Credo von mir ist: Entscheidungen werden im Team und zusammen mit den entsprechenden Anspruchsgruppen gefällt und nicht im stillen Kämmerchen. Betroffene müssen frühzeitig einbezogen werden. Und klar: Gegenwind gehört dazu. Ich bin aber auch bereit, mich zu bewegen.
Was oder wer hat Sie in Ihrer politischen Laufbahn beeinflusst? Gibt es bestimmte Meilensteine oder Personen?
Mein Weg ist vor allem auch von meiner Familiengeschichte geprägt: Meine Grosseltern mütterlicherseits sind aus Italien eingewandert. Das Wissen, dass nicht alle Menschen die gleichen Chancen haben und dass es grosse Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten gibt, treiben mich an. Hinzu kommen meine eigenen Erfahrungen.
Konkret?
Nehmen wir beispielsweise das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Im Kanton haben wir diesbezüglich einen extremen Nachholbedarf, die Unterschiede beim Angebot in den einzelnen Gemeinden sind riesig. Die Kinderbetreuung muss besser geregelt werden. Das steigert nicht nur die Standortattraktivität und ist ein wichtiger Schritt, den Fachkräftemangel zu beheben, es fördert auch die Gleichstellung.
Wo hapert es?
Es herrschen innerhalb des Kantons grosse Unterschiede. Wir haben Gemeinden mit einem extrem guten Angebot und solche, die rein gar nichts anbieten.
Im schweizweiten Vergleich weist der Kanton St.Gallen einen unterdurchschnittlichen Versorgungsgrad auf, was die Kinderbetreuung anbelangt. Die Kosten stellen ein Problem dar. Wenn zwei Drittel von den Eltern übernommen werden müssen, führt das zu hohen Hürden, berufstätig sein zu können.
Wieso klopfen Sie entsprechenden Gemeindeoberhäuptern nicht einfach auf die Finger?
Sensibilisierungsarbeit steht sicherlich an. Weitere Ideen werden auch an einem kürzlich von meinem Departement ins Leben gerufenen «Runden Tisch» entstehen. Hier tauschen sich unter anderem Arbeitnehmende, Arbeitgebende, die Schulen, Gemeinden und Frauen- und Familienorganisationen untereinander aus. Gerade auch die Unternehmen sind gefordert.
Inwiefern?
Sie müssen in ihren Standortgemeinden aufzeigen, dass sie aufgrund von fehlenden Kita-Angeboten zu wenig Fachkräfte für sich gewinnen können und ihre Bedürfnisse anmelden, die Gemeinden motivieren. Die Erkenntnis, dass der Aspekt der Vereinbarkeit verbunden mit einem entsprechenden Angebot einen wichtigen Standortfaktor darstellt, ist noch nicht bei allen angekommen.
Auch hier haben doch aber gerade die vergangenen Monate für Bewegung gesorgt. Homeoffice beispielsweise ist heute ein Dauerthema. Hat nicht schon ein gewisses Umdenken stattgefunden?
Homeoffice erleichtert die Vereinbarkeit, aber man kann nicht zuhause arbeiten und gleichzeitig kleine Kinder betreuen. Die Bedeutung und der Wert von Care-Arbeit, aber auch von Freiwilligenarbeit oder beispielsweise der Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern wurden durch die Pandemie sichtbar. Diesen Schwung müssen wir jetzt mitnehmen und zusammen mit den Gemeinden weitere Schritt einleiten.
Herrscht denn nicht gerade bei den Themen «Gleichstellung» und «Vereinbarkeit» im Grundsatz ein Konsens über alle Parteien hinaus?
Es hat sich zum Glück ein gewisser Konsens bezüglich Grundhaltung gebildet, bei der Umsetzung von konkreten Massnahmen gehen die Meinungen dann eher auseinander. In gewissen Gebieten in unserem Kanton ist das traditionelle Rollenverständnis allerdings noch stark verankert. In Sachen Gleichstellung sind wir in der Ostschweiz noch längst nicht dort, wo wir sein sollten.
Also doch die Quotenregelung?
Nicht zwingend. Die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen, steht an erster Stelle. Bewegt sich dann noch nichts, muss man über weitere Anreize und Vorgaben sprechen, damit Diversität auch wirklich gelebt wird. Es braucht mehr Frauen im Parlament, mehr Frauen in den Regierungen, mehr Frauen in den Entscheidungspositionen in der Wirtschaft. Dann würde sich automatisch einiges verändern. Es geht aber nicht nur um die Frauen, sondern überhaupt um die angemessene Vertretung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen.
Haben Sie selbst diesbezüglich in Ihrem Departement gleich zu Beginn gewisse Umwälzungen vorgenommen?
Nein. 39 Prozent der Führungspositionen in meinem Departement sind mit Frauen besetzt, deutlich mehr als der Durchschnitt der kantonalen Verwaltung. Es gibt aber auch bei uns noch Verbesserungspotenzial.
Obwohl in einem hohen und renommierten Amt: fühlen Sie sich manchmal nicht extrem fremdbestimmt? Es gilt Erwartungen und durchgetaktete Wochen unter einen Hut zu bringen.
Ich entscheide immer noch selbst, welche Veranstaltungen ich besuche und welche Anspruchsgruppen ich treffe. Das alles ist sehr abwechslungsreich. Eine volle Agenda belastet mich nicht. Ich habe gerne Tage, die sehr unterschiedlich verlaufen.
Was geht ihnen so richtig auf die Nerven?
Ich bin eigentlich relativ entspannt und nerve mich nicht so schnell. Aber Ungerechtigkeiten regen mich auf, da wehre ich mich leidenschaftlich dagegen. Auch diskriminierende oder verletzende verbale Äusserungen toleriere ich nicht.
Wie viele Politikerinnen und Politiker würden Sie inzwischen nicht mehr bei sich im Büro empfangen?
Da gibt es niemanden, mit der oder dem ich nicht bereit wäre, mich auszutauschen. Ich habe gerne Menschen. Und ich streite und diskutiere gerne, deshalb bin ich auch Politikerin geworden (lacht). Meine Türe steht immer offen.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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