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Gastbeitrag

Das Märchen von Rotkäppchen und dem Wolf - Version 2024

Unsere Gastautorin schreibt aus aktuellem Anlass die Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf neu. Eine wichtige Rolle spielen dabei die Bauern. Und Blutvergiessen, über das sich trefflich streiten lässt.

Gastbeitrag «Die Ostschweiz» am 05. Februar 2024

Text: Martine Schmid*

Rotkäppli ist zu seiner Grossmutter unterwegs. Mitten im dichten, gesunden Wald trifft es den Wolf.

«Hoi Wolf», sagt Rotkäppli.

«Hoi Rotkäppli», antwortet der Wolf. «Wo gehst du hin?»

«Zum Grosi. Ich muss schauen, dass es genug zu essen bekommt, da es nicht mehr gut zu sich schaut! Es ist immer unterwegs oder klebt auf einer Straße!»

«Warum sollte Grosi auf einer Straße kleben?», fragt der staunende Wolf.

«Ja, weisst du, Grosi ist eine Klimaaktivistin geworden, und Klimaaktivisten kleben sich auf eine Strasse fest und bleiben dort, bis die Polizei sie löst».

«Aber warum machen sie das?»

«Als Protest gegen die Zerstörung der Umwelt, und unter anderem auch für dich, für deinen Schutz, lieber Wolf. Mein Vater sagt, dass Grosi ganz grün geworden ist!»

«Grün? Wie grün? Was ist das, grün?»

«Grün ist all das, was dem Bauer missfällt!»

«Ah!» sagt der Wolf traurig, «dann bin ich auch grün! Aber etwas verstehe ich nicht: Mein Cousin der Stadtfuchs, ein Sprachtalent und ein cleverer Kerl, hat mir erzählt, dass die Städter für meinen Schutz gestimmt hatten, und jetzt verfolgt ihr mich, tötet meine Jungen, oder schlimmer, deren Eltern und wollt mich ausrotten. Wie ist das möglich?»

«Das ist wegen des Zauberstabs der Politiker möglich: Dieser Zauberstab ist schwarz, und aus ihm geht eine giftgrüne Flamme hervor, die alle demokratischen Entscheide verbrennt. Dieser Zauberstab heisst Verordnung. Er ist sehr potent. Und außerdem sagt mein Vater, dass die Städter von der Landwirtschaft gar nichts verstehen, und dass sie nur dazu gut sind, um Ausgleichsgelder auszuzahlen».

Der Wolf denkt lautlos: «Ja, und die Städter werfen dem Landwirt vor, dass er immer die hohle Hand macht, und dass es ihm egal ist, mit seinen Pestiziden, Insektiziden und sonstigen -ziden unser Grund- und Trinkwasser zu vergiften.»

Der Wolf will mehr verstehen. Hartnäckig fragt er nach: «Nur drei Prozent des Schweizer Volkes sind Landwirte. Wie können diese drei Prozent so mächtig sein?»

«Das ist wegen deren Lobby», erklärt Rotkäppli. «Sie ist sehr mächtig und sorgt sich nicht um die Demokratie. Weisst Du, lieber Wolf, die Demokratie ist auch ein Zauberstab, hell und flexibel, und manchmal biegt er sich zu fest, aber er bricht nie.»

«Und DAS sagt dein Vater??» fragt der Wolf misstrauisch.

«Oh nein! Das sagt Roger, der Nachbarsohn!», und Rotkäpplis Augen strahlen ganz plötzlich. Roger ist gross, stark, zartbesaitet und sehr belesen.

Das ist Roger

Roger kennt den Wald und die Wildtiere, er hat auch viel von seinem weisen Grossvater gelernt, der auch Landwirt war. Von ihm hat er unter anderem gelernt, wie man einen Acker ohne Pestizide bestellen kann.

Aber Roger kann nicht mit seinem Vater darüber sprechen, da der Vater für solche Ideen völlig unempfänglich ist. Also trifft er sich mit Rotkäppli und erzählt ihm seine Ideen, seine Projekte. Und Rotkäppli hört zu, bezaubert…

Der Wolf möchte mehr wissen. «Was sagt dein Vater noch über mich?»

Rotkäppli zuckt mit den Schultern. «Er sagt, dass du jede Herdenschutzmassnahme umgehen kannst.»

«Ah, das schmeichelt mir, aber das ist nicht wahr! Eure Elektrozäune fitzen ganz ekelhaft und eure Herdenschutzhunde machen mir Angst. Abgesehen davon gibt es viele Herden, die ungeschützt sind. Und übrigens, viel mehr Tiere als die Anzahl meiner Opfer sterben durch Felssturz, Blitz oder Krankheit, und da sagt der Bauer nichts. Sind ihm diese Tiere nicht wichtig? Warum lässt der Bauer diese Tiere leiden und elendiglich verenden?»

Rotkäppli weiss keine Antwort darauf. «Und was sagt dein Vater noch?», fragt der Wolf.

«Er sagt, dass das Land dem Menschen gehört, und dass auch der Luchs, der Biber, der Graureiher, und all das, was dem Menschen nicht passt, ausgerottet werden muss. Und er sagt, dass du früher oder später einen Menschen, sicher ein Kind, töten wirst, und dass es dann alle bereuen werden, dich nicht früher komplett eliminiert zu haben.»

Der Wolf ist schockiert

Der Wolf ist schockiert! «Aber sag mal im Ernst Rotkäppli, wann erwähnen eure Statistiken einen solchen Fall? Das ist nie passiert! Der Wolf greift prinzipiell keine Menschen an! Er fürchtet sich vor dem Menschen! Nicht wie eure Hunde, die recht gefährlich sein können und nicht nur in eure Waden beissen, sondern mehrfach Kinder, Greise und Frauen getötet haben! Und auch eure Schafsböcke haben einige Menschen auf dem Gewissen. Aber wir, die Wölfe, nicht! Warum glaubt Ihr so ein Gefasel wie aus den Grimm-Märchen? In Italien beispielsweise weiss man, dass eine meiner Vorfahrinnen zwei Waisenkinder, Romulus und Remus, grossgezogen hat. Sie hat ihnen so viel Liebe gegeben, dass beide Brüder ganz stark geworden sind und sogar Rom, eine große Stadt, gegründet haben.»

Rotkäppli hört das empörte Heulen des Wolfes, aber in Gedanken ist das Mädchen schon anderswo… Es ist bei Roger, dem Bauersohn, dessen Bauernhaus sich ganz in der Nähe befindet.

Ein Schuss hallt durch die Luft

Der Wolf und Rotkäppli haben das Häuschen vom Grosi erreicht. Wie üblich ist die alte Dame nicht zu Hause. Rotkäppli lässt ihren Korb auf dem Tisch, und beide verlassen das Haus. Der Wolf schaut sich das Land ums Haus an und denkt: «Das sieht alles ziemlich verlassen aus hier. Wenn Grosi sich für mich auf die Strasse klebt, und obwohl ich den Grund dafür nicht verstehe, kann ich auch für sie etwas tun. Ich werde ihr Grundstück von Mäusen befreien. Ich bin nämlich ein hervorragender Mäusefänger.»

Rotkäppli und der Wolf verabschieden sich voneinander. Der Wolf kehrt zurück in den Wald, und Rotkäppli nähert sich dem Haus von Roger. Das Mädchen geht an der Schafsweide vorbei und will schnell sehen, ob Roger da ist. Ihr Herz pocht vor Vorfreude…

Ein Schuss hallt durch die Luft. Rotkäppli gleitet wortlos zu Boden, sein Blut tränkt langsam seinen roten Mantel…

«Ich habe den Wolf erschossen»

Rogers Vater rennt herum, macht Freudensprünge und schreit hysterisch: «Ich habe den Wolf erschossen, er lauerte um die Weide und wollte meine Schafe töten. Ich habe den Wolf erschossen, ich darf das Fell und die Pfoten behalten, wo ist mein Messer, wo ist meine Axt? Ich habe den Wolf erschossen!»

Roger ist als Erster beim Rotkäppchen. Er nimmt das sterbende Mädchen in seine Arme und weint still. Der Vater ist ausser sich vor Freude und brüllt weiterhin, er habe den Wolf erschossen. Als er bei Rotkäppli ankommt, erkennt er endlich seinen Irrtum. Es tut ihm sehr leid, aber er wird nie ein Wort darüber verlieren.

Weiterhin wird er behaupten, dass er den Wolf erschossen habe. «Ein anderer hat Rotkäppli erschossen,» wird er immer wieder behaupten. Dass man keinen Wolfkadaver gefunden hat, wird ihn nicht stören und nichts an seiner Geschichte ändern…

Nachwort

Kurz nach dem Tod von Rotkäppli starb Grosi vor Gram. Vorher hatte es sein kleines Haus und das Land rundherum an Roger vermacht. Da die alte Frau viele Freunde hatte, wurde sie ehrenvoll bestattet. Man bettete sie liebevoll in ihren Sarg mit ihrem grünen, geblümten Rock aus den 1968er-Jahren. Jemand hatte ihr die Hände in frommer Gebetstellung mit Instantkleber zusammenfixiert, viele Blumen lagen mit ihr im Sarg. Nach der Kremierung verstreute Roger ihre Asche in ihrem geliebten Garten.

Am Tag des Todes von Rotkäppli verliess Roger den Bauernhof seines Vaters. Er wohnte eine Weile lang bei seinem Freund, dem Jägersohn Adrian. Im Gegensatz zu seinem Vater, der schon einige Hunde und sogar ein Rind und eine Ziege auf dem Gewissen hatte, jagte Adrian zu Fuss und nicht aus einem Jeep. Er pirschte sich langsam an seine Beute heran und drückte nur ab, wenn er sicher war, dass sein Schuss das Tier sofort töten würde. Adrian und Roger kannten und schätzten sich gegenseitig seit Kindesbeinen.

Roger übernahm Grosis Grundstück und fing an, nach der Methode seines Grossvaters zu bauern, ohne Chemie, mit wenigen Tieren. Er pflanzte Getreide und Kartoffeln, Gemüse und Obstbäume. Für die Ernte mietete er eine Maschine bei der Kooperative.

Er pfiff auf die Subventionen des Bundes und lebte dafür ohne den Druck der Auflagen. Seine Produkte waren hochwertig und wurden mit der Zeit berühmt. Seine Kunden zahlten gerne mehr für die Qualität seiner Produkte.

Roger heiratete nie. Die Erinnerung an Rotkäpplis Augen stand ihm immer im Weg. Aber Adrians Kinder liebten ihn und besuchten ihn häufig. Dann erzählte er ihnen Geschichten über die Wildtiere und den Wald. Die Grimm-Märchen gehörten nie dazu.

Rogers und Rotkäpplis Vater besuchten sich häufig, da sie sonst niemanden mehr um sich hatten. Sie tranken gern ein paar Gläser eines grünlichen Schnaps zusammen und tauschten Neuigkeiten und Geschichten aus der Region aus. Eines Abends, nach mehreren Gläsern Schnaps, fragte Rogers Vater seinen Besuch: «Sag mal, Kumpel, mich plagt etwas sehr Wichtiges: Was glaubst du, steht wirklich nur die Wahrheit in den Grimm-Büchern?»

*Martine Schmid ist pensionierte Tierärztin und lebt in Urnäsch.

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