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Gastbeitrag

Das Missverständnis meiner Tochter

Wilhelm Tell: Die Sage gibt es in zwei Versionen. Und gerade Kinder sollten heute wohl beide kennen. – Ein Gastbeitrag zum 1. August von Marcel Emmenegger.

Marcel Emmenegger am 01. August 2021

Als ich gestern vom Joggen zurückkam, sprang mir meine Tochter schon im Hauseingang entgegen. „Papa, do you see all this firework?“ Aus irgendeinem Grund reden wir Englisch zu Hause – it‘s a long story. Aber natürlich ich hatte das Feuerwerk bemerkt. Beim Rundkurs auf dem Herisauer Ebnet sind mir ein paar Raketen über den Kopf geflogen. Ich fragte meine Tochter, ob sie das Feuerwerk sehen will. Sie wollte, aber schallgeschützt aus dem Auto. Also sagte ich ihr, sie solle sich für einen Ausflug parat machen. Sie warf sich umgehend in einen rosaroten Bademantel. Ich hielt mich mit einem Kommentar zurück, Jacken konnten wir uns offenbar nicht leisten.

Auf dem Weg zum Sedel wollte sie von mir erklärt haben, warum all die Geschosse in die Luft flogen. Ich war eigentlich nicht unqualifiziert, ihr das zu erklären. An einer Hochschule hatte ich bei einem Kurs in Public Governance eine Thesis mit dem Titel „The Conspiracy of 1291 Revisited – How the Myth of William Tell Continues to Frame Swiss Politics“ eingereicht, also etwa „das Komplott von 1291 nochmals unter die Lupe genommen – wie der Mythos vom Wilhelm Tell die schweizerische Politik weiterhin vor sich hertreibt“. Ich versuchte also meiner Tochter in den nächsten Minuten die sagenumwobene Gründung unseres Landes einigermassen kindgerecht zu erzählen.

Die Schweiz wurde nicht durch einen herausragenden Herrscher zusammengeschweisst oder durch eine einzelne Sprache oder geografische Gegebenheiten definiert. Die Schweiz hat ihre nationale Identität wohl in erster Linie durch den Befreiungsmythos des Wilhelm Tell erhalten, obwohl historische Forschungen zeigen, dass Tell vermutlich niemals existiert hat. Die Figur des Wilhelm Tell besitzt aber nach wie vor eine grosse Mobilisierungskraft bei der Schweizer Bevölkerung, weil sie eben Teil einer kulturellen Tradition ist, die sowohl die Eliten des Landes als auch die des Volkes mit einbezieht und zudem auch religiöse Grenzen überschreitet.

Das habe ich meiner Tochter natürlich nicht erzählt. Ich habe unserer Siebenjährigen erklärt, dass der unbescholtene Jäger Wilhelm Tell von dem bösen Landvogt Gessler gezwungen wurde, seinem Sohn einen Apfel vom Kopf zu schiessen und daraufhin Tell den Landvogt tötete und zum Volksaufstand aufrief und dass die in der Schweiz regierenden fremden Vögte verjagt wurden und das Volk seine Freiheit zurück erhielt.

„Ach so, dann feiern sie jetzt also das Ende der Coronamassnahmen mit den Raketen“, folgerte meine Tochter und „jetzt können wir endlich nach Kanada fliegen und die Kratt-Brüder besuchen!“ Ich sagte, nein, die Coronamassnahmen seien noch nicht zu Ende. „Äh nicht? Für was schiessen sie denn Raketen in die Luft?“ fragte meine Tochter. Ich sagte ihr, das wäre mir auch ein Rätsel. Dann erzählte ich Amara die Geschichte von „Wilhelm Tell für die Schule“, der Verfasser war ein gewisser Max Frisch. Tell ist hier Wutbürger par excellence und der Landvogt ein verunsicherter Beamter, welcher der Rechthaberei eines Alpentals wehrlos ausgeliefert ist.

Da meine Tochter nach den Ferien eingeschult wird, macht es vielleicht Sinn, dass sie schon beide Versionen der Tell-Saga kennt.

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Marcel Emmenegger

Marcel Emmenegger ist Sozialarbeiter und wohnt in Herisau.

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