Gottlieb F. Höpli.
Was für ein seltsames Obersten-Regime, das die Medien da eingesetzt haben: Die oberste Lehrerin, der oberste Unirektor, ja sogar: der oberste Reformierte (ich dachte immer, der hiesse Herrgott, und nicht Locher)! Nie wimmelte es in unseren Zeitungen so von «obersten» Funktionsträgern wie zu Corona.
Gottlieb F. Höpli schreibt jeden Freitag an dieser Stelle zur Lage der Nation - oder auch zu kleineren Dingen.
Ein Hunger nach Autorität weht durch die Redaktionen. In Zeiten wie diesen reicht es anscheinend nicht mehr aus, dass einer von Amtes wegen oben steht. Nein, er muss zuoberst stehen, konkurrenzlos und unbestritten. Heisse er nun Berset, Koch oder Hanselmann. Frau Hanselmann wird im Schweizer Fernsehen nur noch als «oberste Gesundheitsdirektorin» angekündigt.
Nur noch den allerobersten ihrer Spezies, so scheint es, können wir noch vertrauen. Dann, wenn es um Leben und Tod oder doch wenigstens um die Frage geht, ob Grosseltern ihre Enkel neuerdings wieder kurz umarmen dürfen. Oder ob, wie kürzlich eine junge Dame im «Tagblatt» fragte: «Darf ich in der Corona-Krise schwanger werden?» Immerhin fragte sie nicht auch noch: von wem?
Nein, der republikanisch-kritische Blick von unten auf die da oben ist zurzeit nicht im Schwange. Hat man etwa vergessen, dass in unserer Demokratie das Volk der Souverän ist, von dem jegliche Herrschaft ausgeht? Den Souverän sucht man im derzeitigen Obersten-Regime der Medien vergebens. Hat er abgedankt?
Die Herrschaft der Regierenden wird derzeit von den Experten legitimiert, den Virologen, Immunologen und Gesundheitsstatistikern. Vor allem von denen, die auch in den Medien die erwarteten Antworten abgeben. Damit keine Widersprüche in der obrigkeitlichen Pandemie-Politik aufbrechen. Das Publikum soll schliesslich wissen, woran es sich zu halten hat. Will widerspruchsfreie Begründungen, wenn es sich schon wochenlang in der Wohnung verschanzt und – so geschehen – die Zeitung wegen Ansteckungsgefahr erst nach drei Tagen aus dem Briefkasten fischt.
Nur dann, wenn Politiker und ihre Experten ihre Meinung auf schwankender Fakten-Basis zu ändern wagen, kommt Medienkritik auf. Sie hätten ihre «Glaubwürdigkeit verspielt», ihre Autorität sei «angekratzt», lese ich im aargauisch-luzernisch-ostschweizerischen Allerweltsblatt. Wenn es sich nicht mehr verbergen lässt, dass auch sie sehr wenig von dem wissen, worüber sie entscheiden, oder wenn sie sich nicht mehr unisono vernehmen lassen, dann «hat die Kommunikation versagt». Denn woran soll man jetzt noch glauben?
Die Antwort heisst: Man soll gar nicht glauben! Man soll überprüfen, selber denken, selbst entscheiden. Ob man als fitter 66-Jähriger einkaufen, die Enkelin herzen, den alleinstehenden kranken Freund in seiner Wohnung aufsuchen, ob man schwanger werden will – man soll wieder selbst Verantwortung übernehmen. Ohne Autoritätsgläubigkeit, nüchtern abwägend, faktenbasiert und informiert durch die Medien. Dazu müssten die Nachrichtenredaktoren allerdings das derzeitige Obersten-Regime erst einmal stürzen, das in ihren Köpfen herrscht.
Gottlieb F. Höpli.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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