logo

Ehemaliger Mitarbeiter St.Galler Kantonsrat

Das Parlament ist langweilig? Nicht für ihn

Dieser Mann scheut die Arbeit nicht: Michael Strebel hat für sein neues Buch «Das Schweizerische Parlamentslexikon» 10’000 Dokumente ausgewertet und 580 Personen um Auskunft gebeten. Wie er das geschafft hat, erklärt er im Interview.

Manuela Bruhin am 24. Januar 2023

Sie haben mit Ihrem Parlamentslexikon 485 Schweizer Parlamente analysiert und über 600 Begriffe definiert. Wie kamen Sie auf die Idee, ein solches Buch in Angriff zu nehmen?

Bereits während des Studiums haben mich Parlamente besonders fasziniert. Es war dann eine tolle Chance, dass ich vor Studienabschluss als Mitarbeiter des St.Galler Kantonsrates eingestellt wurde (2008 bis 2014). Seit diesem Zeitpunkt begann die Idee zu wachsen, mich einmal gründlich mit all den Begriffen und Prozessen der Parlamente, jenseits von Motion, Postulat, Interpellation, zu beschäftigen. Je mehr ich mich beruflich und wissenschaftlich auf Parlamente spezialisierte, umso stärker wurde das Gefühl, das könnte eine spannende Sache sein. Dass es dann am Ende 600 Begriffe werden würden, war auch für mich eine Überraschung. Alle Parlamente auf Gemeindeebene anzuschauen und Beispiele aus allen Kantonen, kleinen und grossen Gemeinden bei den Begriffen einfliessen zu lassen, hat sich aus dem Wunsch ergeben, auch weniger beachtete Regionen oder Orte der Schweiz zu würdigen.

Sie haben 10'000 Dokumente ausgewertet und 580 Personen interviewt. Das tönt nach haufenweiser Arbeit. Wie viel Zeit ist von der Idee bis zum fertigen Buch verstrichen?

Im Dezember 2020 fing ich an zu Schreiben und die Veröffentlichung war Ende Dezember 2022. Das Buch entstand neben meiner beruflichen Tätigkeit, wo aber Parlamente im Zentrum sind. Ohne Unterstützung ging es dennoch nicht. Eine Historikerin recherchierte das Parlamentsrecht der Kantone und viele weitere zweckdienliche Unterlagen. Meine Lebenspartnerin erstellte so manche Grafiken und machte eine inhaltliche Überprüfung. Letztlich braucht es einen Verlag, der von der Idee überzeugt ist, und alles professionell umsetzte, und den hatte ich. Die 580 Personen wurden schriftlich zu spezifischen Parlamentsaspekten befragt, die aus den Unterlagen nicht zu beantworten waren; bei ganz vielen Gemeindeparlamenten war dies zum Beispiel das Gründungsjahr – aber nicht nur. Für mich stand im Zentrum, ein Buch zu verfassen, indem sich ganz viele Parlamente wiedererkennen und welches für den Parlamentsalltag nützlich ist. Daher waren diese Auskünfte besonders wertvoll.

Wie sind Sie bei Ihrer Arbeit vorgegangen, damit Sie sich nicht verzetteln – bei so vielen Interviews und Dokumenten?

Eine gewisse Strukturiertheit ist sicher von Vorteil, um es etwas diplomatisch zu sagen. Aber das Wichtigste ist wohl die Freude und Begeisterung am Thema. Es bereitete mir auch grossen Spass, mich mit einer Frage vertieft und detailliert auseinandersetzen zu können. Schliesslich war mein Ansporn, etwas zu erarbeiten, was es in dieser Form noch nicht gibt, und mit der ich meine Leidenschaft für den Parlamentarismus ausleben konnte.

Für viele ist das Parlament nicht sehr spannend. Haben Sie vielleicht für diese Personen das eine oder andere Highlight, dass man noch nicht so bewusst wahrgenommen hat?

Zunächst einmal die einfache Tatsache, dass Parlamente über alle wichtigen politischen Fragestellungen entscheiden, die uns unmittelbar in unserem Alltag betreffen. Und dabei geht es nicht nur um einfache Ja-/Nein Entscheide, sondern um detailreiche Inhalte, die letztlich sozusagen die Rahmenbedingen unseres Alltags formen. Dies allein sollte eigentlich ein Argument sein, der Institution Parlament Beachtung zu schenken. Vielleicht nimmt man nicht so bewusst wahr, dass auch mit einem Parlament die inhaltliche Mitwirkung der Bevölkerung bewahrt bleiben kann – zum Beispiel indem Bürger Vorstösse direkt im Parlament einreichen können und auch bei der Beratung das Wort haben. Dies ist zum Beispiel bei den Aargauer Einwohnerräten der Fall. Viele Parlamente kennen das Gleiche auch für Jugendliche, die so ermuntert werden, sich in der Gesellschaft einzubringen.

Hat sich Ihre persönliche Ansicht im Laufe der Umsetzung auch geändert?

Der Föderalismus als Labor trifft auch auf unsere Parlamente zu: lokale Begriffe, spezielle Instrumente, eine grosse Vielfalt politischer Prozesse. Dies hat meine persönliche Sicht geschärft, wie unterschiedlich die hiesige parlamentarische Landschaft doch ist.

Welches war für Sie die grösste Herausforderung bei der Umsetzung des Buchs?

Bei all den vielen Informationen die wichtigen und interessanten Bestandteile herauszuarbeiten und den «roten Faden» nicht aus dem Blick zu verlieren.

An wen ist es gerichtet?

An alle, die sich mit einer der wichtigsten politischen Institution beschäftigen und sich überraschen lassen möchten, was es alles gibt. Oder wussten Sie, dass es im Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt einen Anzug als parlamentarischen Vorstoss gibt? Oder was das Götti-System ist? Und was hat es mit einem Mantelerlass auf sich? Oder wie unterschiedlich die Mindestanzahl für die Bildung von Fraktionen sind, angefangen bei eins bis hin zu zehn. Ich möchte mit dem Buch regionale Spezialitäten in anderen Regionen, auch Sprachregionen, bekannt machen, das gegenseitiges Verständnis fördern, Inputs und Ideen zur Weiterentwicklung des politischen Systems geben.

Was nehmen Sie persönlich mit?

Letztlich auch eine grosse Wertschätzung gegenüber allen Parlamentarierinnen und Parlamentarier in diesem Land. Sie setzen sich für die res publica ein, oft jenseits einer breiten öffentlichen Wahrnehmung ihrer Tätigkeit und teils auch mit persönlichen Abstrichen.

Michael Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Parlamentarismus und politische Systeme. Er hat Lehraufträge an Hochschulen und arbeitet für verschiedene Parlamente. Zudem bietet er Dienstleirungen für politische Institutionen an.  Ende Dezember 2022 ist «Das schweizerische Parlamentslexikon» beim Verlag Helbling Lichtenhahn erschienen.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.