Wäre Politik logisch erklärbar, würde der Sozialdemokrat Paul Rechsteiner kaum für den Kanton St.Gallen im Ständerat sitzen. Er tut es aber seit acht Jahren - und es ist gut möglich, dass er vier weitere anhängen kann. Sein Fall ist beispiellos in der Schweiz. Was ist sein Rezept? Eine Annäherung.
Der Grüne Matthias Zopfi hat in Glarus einen amtierenden Ständerat der SVP verdrängt. Es war eine kleine Sensation im ländlichen Kanton. Diese Sensation relativiert sich aber schnell. Zopfi ist, wenn man das in der Schweiz so einteilen würde wie in Deutschland, ein «Realo» und kein «Fundi». Er ist in Glarus verwurzelt, präsidierte einst das Kantonsparlament und hat keine Berührungsängste gegenüber dem politischen Gegner. Manche seiner Positionen sind sogar durchaus bürgerlich. Ein Grüner, den man auch aus der Mitte heraus wählen kann, ohne dass der Nachbar den Kopf schüttelt.
Paul Rechsteiner ist, bezogen auf seine Positionen, ein «Fundi». Auf der Zehnerskala Richtung links erreiche der SP-Mann eine 9,4, stellte Roland Rino Büchel (SVP) fest, als er seine erneute Ständeratskandidatur vorstellte. Und weiter: «Das ist die Liga von Wermuth und Molina.» Die Botschaft: Der 67-Jährige ist also kaum von den früheren Flaggschiffen der traditionell extremeren Jungsozialisten zu unterscheiden.
Wie schafft es jemand mit diesem Profil, St.Galler Ständerat zu werden und zu bleiben?
Vielleicht aufgrund eines Paradoxon. Rechsteiner ist als Politiker und früherer Gewerkschaftsboss in den Medien omnipräsent, verbiegt sich nicht, stellt klare Forderungen, versucht nie, seine Gesinnung zu verbergen - aber das Wahlvolk ignoriert sie offenbar. 2011 wurde Rechsteiner im 2. Wahlgang mit über 54'000 Stimmen gewählt, 2015 mit über 70'000 wieder gewählt. Im Kanton St.Gallen gibt es rund 320'000 Stimmberechtigte. Es ist nicht anzunehmen, dass fast ein Viertel von ihnen Rechsteiners Positionen teil. In den Städten: Sicher. Auf dem Land: Kaum.
Das heisst, die Leute wählen ihn aus anderen Gründen. Oder weil sie seine Positionen nicht kennen. Obwohl er keinen Hehl daraus macht.
Denn das ist das Verblüffende: Während viele bürgerliche Politiker unverblümt vom «Sozialisten» sprechen, wenn sie Rechsteiner meinen, kommt er im Volk nicht als umstürzlerischer Hardliner an. Eigentlich haben viele von ihm gar kein Bild. Er ist keiner, der sich bei Volksfesten unter die Leute mischt und hat die letzten über 30 Jahre sowieso zu einem schönen Teil in Bern verbracht. Wer wissen will, wo Rechsteiner steht, kann sich seine Vorstösse und sein Stimmverhalten online anschauen, aber wer macht das schon? In erster Linie ist er ein seriös und engagiert wirkender älterer Herr, dessen Erfahrung in der Bundespolitik unerreicht ist. So einer ist kein Futter für Protestwähler, sondern durchaus auch für Frau Meier aus Hemberg, die findet, das Soziale sei ja schon auch wichtig.
Die Bürgerlichen verzweifeln. Da gibt es einen, der eine klare und begrenzte Klientel, aber doch nicht die Mehrheit eines eher konservativen Kantons vertritt - und die Wähler folgen ihm. Wenn einer sogar den jovialen Dauergrinser Toni Brunner im Ring schlägt, der ja auf seine Art auch Leute ausserhalb der eigenen Partei angesprochen hat, was ist dann das Rezept gegen ihn?
Es ist zu bezweifeln, dass Roland Rino Büchel dieses Instrument ist, auch wenn er zweifellos ein guter Ständerat wäre. Im Fall von Paul Rechsteiner geht es gar nicht darum, wen man gegen ihn in die Schlacht schickt. Er hat sich eine Position erarbeitet, in der die Gesetzmässigkeiten der Politik ausser Kraft gesetzt werden. Man hat das Gefühl, die St.Galler wollen gar nicht so genau wissen, wofür er steht und was er vertritt.
Die SP sieht das natürlich anders. Sie predigt, die St.Gallerinnen und St.Galler hätten mit Paul Rechsteiner bewiesen, dass sie soziale Gerechtigkeit und Verantwortung im Ständerat haben wollen. Interessant, dass das früher nie der Fall war. Dass die SP vor Rechsteiner chancenlos war in Sachen Ständerat. Natürlich hat es auch eine Rolle gespielt, wie sich der SP-Mann an der Seite der damaligen Ständerätin Karin Keller-Sutter (FDP) als unideologischer Regionalvertreter gab, der selbst in einer unheiligen Allianz für St.Gallen eintritt. Aber KKS ist weg, und Rechsteiner hat im ersten Wahlgang wieder ein sehr gutes Resultat gemacht. Man will ihn also nicht nur in diesem Doppel. Man will ihn aus Prinzip.
Aber aus welchem Prinzip heraus?
Aus einem politischen kaum. Und auch nicht aus einem menschlichen, Rechsteiner ist kein Händeschüttler. Vielleicht ist es eine Art unbewusster Gerechtigkeitssinn: Die andere Seite soll einen der beiden Sitze haben, St.Gallen ist nicht homogen, es ist durchaus bunt, und das soll sich reflektieren. Was Bürgerliche wahnsinnig macht, denn in der Bilanz heisst es, dass die regelmässige Mehrheit im Kanton St.Gallen bei Abstimmungen anders denkt als ihr Ständerat. Und dass die regelmässige Mehrheit viele der Grundforderungen ihres Ständerats nicht teilt. Aber Tatsache ist: Das stört die Menschen nicht. Und der Wähler hat immer recht.
Vielleicht ist die Wahrheit aber auch banaler. Paul Rechsteiner war ab 1986 Nationalrat. Das war vor 33 Jahren. Das heisst: Für die meisten Leute, die an die Urne gehen, war er einfach schon immer da. Genau wie das Beistelltischchen im Flur der Wohnung, auf das man die Post legt, wenn man zur Tür rein kommt. Es war schon immer da - wieso soll es jetzt weg?
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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