1949 lebte noch ein einziges Storchbrutpaar in der Schweiz. 70 Jahre später sind die Vögel in der (Ost-)Schweiz wieder heimisch. Welche Anstrengungen damit verbunden sind – und wie die Zukunft der Störche aussehen könnte.
Die Brut liegt aneinander gekuschelt im geborgenen Nest, nur der sich senkende und hebende Brustkorb verrät, dass es ihr gut geht. Kein Wunder, dass derzeit Kuscheln angesagt ist. Denn der Regen tropft unablässig auf ihr zartes Storchengefieder. Der Vater oder die Mutter sind mit der Nahrungsaufnahme beschäftigt, haben ihren Nachwuchs dabei stets im Blick. Ein idyllisches Bild, welches die kleine Storchenfamilie über die in der ganzen Schweiz angebrachten Webcams abgibt. Doch der Schein kann leicht trügen. Denn: Etwa dreiviertel aller Jungstörche überleben nicht bis ins Erwachsenenalter – aus verschiedenen Gründen.
Gefährliche Kombination
Eine kleine Sensation ist es ohnehin, dass Störche überhaupt in der Schweiz heimisch sind. Um die 50er Jahre suchte man sie in der (Ost-)Schweiz nämlich vergebens. 1949 gab es noch ein einziges Brutpaar, welches überlebt hat, sagt Peter Enggist, Geschäftsführer von Storch Schweiz mit Sitz in Kreuzlingen. Anschliessend waren die Tiere in der Schweiz nicht mehr zu finden. Im Umland machte man ähnliche Erfahrungen. In ganz Westeuropa, und auch im Elsass, dem eigentlichen «Paradies» für die Störche, nahm die Zahl während der Zeit massiv ab. «Das Wetter war während der Brutzeit im April/Mai über mehrere Jahre lang sehr schlecht. Es regnete häufig und war kalt», so Enggist. Wobei die Kälte den Tieren nicht so viel ausmachen würde – in Kombination jedoch mit dem Regen wären die Folgen verheerend.
Wunsch erfüllte sich
«Mein Vorgänger, der legendäre Storchenvater Dr. hc. Max Bloesch, hat aus dem Elsass und Algerien die Population wieder aufgebaut. Es ist ihm gelungen, dass in Alteu 1960 erstmals wieder eine erfolgreiche Brut stattgefunden hat», sagt Enggist im Gespräch. Schliesslich kamen mehrere Aussenstationen dazu, bei den meisten von 23 Stationen half Enggist selber beim Aufbau mit. Er, der eigentliche Architekt, war schon seit jeher von den Störchen fasziniert. «Wir hatten früher einen Bauernhof, Tiere liegen mir am Herzen. Ich dachte mir, dass es schön wäre, einen Storch auf dem Dach zu haben – und da führte eines zum anderen», erinnert sich Peter Enggist an die 80er Jahre zurück.
Enggist lernte, wie man eine Nestunterlage konstruiert, baute geeignete Plätze – und konnte sich seinen Wunsch nach einem Storch auf dem Dach bald erfüllen. Nicht immer sind die Anstrengungen jedoch von Erfolg gekrönt. Auch wenn die Voraussetzungen stimmen würden, lässt sich manchmal kein Storch auf dem Platz nieder. «Die Tiere haben ihren eigenen Kopf», sagt Enggist und lacht.
Die Mischung macht’s
Die meisten Störche im Kanton Thurgau sind in Wigoltingen zu finden – dort zählt man inzwischen elf Brutpaare. Vor vier Jahren waren es gerade einmal zwei. Im Kanton St.Gallen gibt es grössere Ansammlungen. In Sennwald/Saxerriet beispielsweise leben derzeit 42 Brutpaare. «Das Wichtigste für die Tiere ist es, geeignete Nahrung zu finden», sagt Enggist. Dies wäre dann der Fall, wenn die Felder rundherum abwechslungsreich gestaltet werden. Monokulturen, wie sie beispielsweise oft in Polen zu finden sind, hätten eine sinkende Storchenpopulation zur Folge.
Die erfolgreiche Wiederansiedlung der Tiere freut die Mehrheit – aber längst nicht alle. «Nicht jeder möchte einen Storch auf dem Dach. Denn sie bringen auch Schmutz mit sich», sagt Enggist. Dies führt in manchen Fällen so weit, dass Horstunterlagen illegal zurückgebaut werden. Dann jedoch könnte ein hohes Bussgeld die Folge sein. Doch das, betont Enggist, seien nur vereinzelte Fälle. «Wir versuchen stets, über den Dialog aufzuklären und die Freude bei den Menschen zu wecken, damit wir den Störchen weiterhin ein Gastrecht einräumen können.» Bei den Landwirten seien Störche häufig gern gesehene Gäste. Schliesslich fressen sie Mäuse und Käfer, und entfernen so lästiges Ungeziefer.
Kritische Zeit
Auch wenn es in diesem Jahr häufig geregnet und der Schnee noch spät Einzug gehalten hat – für die Storchenpopulation sind bisher die negativen Folgen «unerklärlicherweise ausgeblieben», wie Enggist sagt. «Das kann sich aber immer noch ändern.» Die kritische Zeit liegt in den ersten vier bis fünf Wochen, anschliessend ist der Nachwuchs durch das wachsende Gefieder besser geschützt und allgemein robuster.
Inzwischen leben über den Winter rund 800 Störche in der Schweiz. Sie ziehen nicht mehr wie in der Vergangenheit über die kalten Monate nach Afrika – weil auch hierzulande die Winter milder geworden sind. Dies hat zur Folge, dass sich weniger Vögel auf der Reise verletzen können. Die Population dürfte also in der Schweiz weiter ansteigen. Durchschnittlich lebt ein Storch acht Jahre. Enggist erinnert sich jedoch an einen besonderen Storch in Möhlin, welcher über 40 Jahre alt wurde. Das Tier ist nie weggezogen und stammte aus dem Wiederansiedlungsprojekt.
Auch wenn die Tiere über den Winter in der Schweiz bleiben würden, könnten sie einige Wochen ohne Nahrung überleben. Ohnehin finden sie meist selber eine Maus oder einen Fisch, weil sie sich für die Nahrungsaufnahme in den entsprechend milderen Regionen aufhalten.
In den vergangenen Jahren ist die Storchenpopulation hierzulande jährlich um bis zu zehn Prozent angestiegen. «Völlig unnatürlich», sagt Enggist dazu. Dies ist auch deshalb erstaunlich, weil von zehn Jungstörchen nur etwa ein bis zwei überleben würden. Dies reiche jedoch aus, damit die Zahlen auch künftig weiter ansteigen werden. «Aber», hält Enggist lachend fest, «solange die Störche die Kinder bringen, sind sie meist auch bei den Menschen beliebt.»
(Bilder: Kurt Anderegg)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.