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Wahre Verbrechen (1)

Der Doppelmord, der angeblich nicht hätte geschehen sollen

Zwei Tote, drei Täter – und viele bis heute offene Fragen:  Das ist die Bilanz eines zweifachen Mordes, der sich 1991 im Aargau ereignete. Das grösste Rätsel birgt der Mann, der die Tat in Auftrag gegeben haben soll und vergeblich versuchte, seinen eigenen Fehler zu verhindern.

Stefan Millius am 01. Juli 2022

In unserer Serie «Wahre Verbrechen» beleuchten wir durch den Sommer hindurch Kriminalfälle aus der ganzen Schweiz, die Schlagzeilen gemacht haben.

11. Februar 1991 um etwa 22.30 Uhr. Christian Breitschmid kommt von seinem Ferienjob in einer Videothek nach Hause in das elterliche Eigenheim in Wohlen im Kanton Aargau. Der Gymnasiast, der kurz vor der Matura steht, findet im Wohnzimmer seine Eltern auf dem Boden liegend. Beide tot, beide mit je zwei Kopfschüssen aus nächster Nähe niedergestreckt. Die Polizei wird später vom «Eindruck einer Exekution» sprechen.

Es ist zunächst ein rätselhaftes Verbrechen. Raubmord kann ausgeschlossen werden, es fehlt nichts im Haus. Direkte Zeugen gibt es keine. Die einzige mögliche Spur ist ein heller Renault 5 mit französischem Kennzeichen, der in der Nähe der Villa gesehen worden war. Verwertbare Spuren: Fehlanzeige.

Ganz Wohlen ist in Aufruhr. Die Breitschmids sind bekannte und beliebte Persönlichkeiten in der Stadt und darüber hinaus. Peter Breitschmid ist Inhaber eines Familienunternehmens, das Kabel herstellt. Ursula Breitschmid arbeitet als Fotografin und engagiert sich für soziale Projekte.

Adoptivsohn im Fokus

Das ermordete Ehepaar hat neben Christian einen weiteren Sohn namens Romano. Der damals 27-Jährige war mit vier Jahren von den Breitschmids adoptiert worden als eines der «Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute, einer Aktion, die später in Verruf geraten sollte. Romano Breitschmid, der die Theaterschule von Dimitri besucht hatte, arbeitet inzwischen als erfolgreicher Clown und Artist auf der ganzen Welt. Zum Zeitpunkt des Geschehens ist er zusammen mit seinem Bühnenpartner, dem 61-jährigen Giorgio S., in Spanien engagiert. Dieser ist, wie sich später zeigt, auch sein Lebenspartner.

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Romano Breitschmid bei einem Auftritt mit seinem Bühnenpartner.

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Kurz vor der Beerdigung trifft Romano Breitschmid in der Schweiz ein. Sehr schnell steht er im Fokus der Ermittlungen. Da ist zunächst sein rätselhaftes Verhalten. Als ihn sein Bruder telefonisch vom Tod der Eltern informiert, reagiert Romano scheinbar überrascht und geschockt. Später stellt sich heraus, dass er die Nachricht bereits früher durch Dritte erhalten hat. Das weckt erste Zweifel. Bei den Gesprächen mit der Polizei wirkt er zudem gefasst bis desinteressiert – nicht so, wie man es nach einem solchen Verlust in der eigenen Familie erwarten würde.

Wilde Geschichten über die Mafia

Seine ursprüngliche Behauptung, von nichts zu wissen, erhält bald Risse – durch seine eigenen Aussagen. Plötzlich macht der Artist gegenüber seinem Bruder Bemerkungen über die Mafia, die an der Tat beteiligt gewesen sein soll. Gegenüber der Polizei wird Romano Breitschmid konkreter. Sein Bühnenpartner Giorgio S. habe ihn bedroht und zwingen wollen, über seine Eltern an Geld zu kommen, sonst werde er Probleme mit der Mafia erhalten. Diese stecke also vermutlich hinter dem Doppelmord. Die Polizisten hören zu – und glauben kein Wort. Der Adoptivsohn wandert in Untersuchungshaft. Denn es wird offensichtlich: Er weiss mehr, als er sagt, und was er sagt, klingt nach Schutzbehauptungen.

Der Verdacht beruht nicht zuletzt auf einem möglichen Motiv. Romano Breitschmid ist das Sorgenkind der Familie. Er gilt als sehr talentierter Künstler, steckt aber permanent in Geldsorgen. Immer wieder bittet er seine Eltern um Unterstützung für Projekte, die dann nie Wirklichkeit werden. Als er immer höhere Summen will, beginnen die Breitschmids irgendwann, Nein zu sagen. Die Beziehung wird belastet. Als der homosexuelle Romano an HIV erkrankt, führt das zu weiteren Spannungen im eher traditionell ausgerichteten Haushalt. Jedenfalls schildert Romano Breitschmid das so, es gibt auch Stimmen, die sagen, dass das Outing zu keinerlei Zerwürfnis geführt habe. Vieles spricht dafür, dass sich der Adoptivsohn gerne als Opfer sieht, immer wieder spricht er davon, nicht wirklich geliebt worden zu sein – was das Umfeld der Familie nicht bestätigen kann.

Später wird Christian Breitschmid in einer TV-Dokumentation seine eigene Zerrissenheit schildern. Er habe seinen Bruder stets als gewaltlos, aber doch auch als zweifelhafte Persönlichkeit wahrgenommen. Die Distanz scheint mit der Zeit zu wachsen. Romano Breitschmid trinkt, seine Krankheit schreitet voran, er verändert sich zum Schlechten.

Drei Beteiligte – aber in welchen Rollen?

Einer Phase des Abstreitens folgt in der Untersuchungshaft ein erstes Zugeständnis. Romano Breitschmid räumt ein, am Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, aber nur als Vermittler. Sein Bühnenpartner Giorgio S. sei die treibende Kraft gewesen. Dieser wiederum behauptet nun auch nicht mehr, von nichts zu wissen, bezichtigt aber seinerseits, sein Bruder Riccardo S., habe die Tat ausgeführt.

Allmählich zeichnet sich ein Bild des Geschehens ab, das aber unscharf bleibt. Die Polizei ist überzeugt, dass alle drei Männer etwas mit dem Doppelmord zu tun haben, doch die Rollenverteilung bleibt unklar. Sie wird es bis zuletzt bleiben.

Vor allem, weil die Aussagen der Männer die einzigen Quellen sind und sie sich gegenseitig widersprechen. Geht es nach Romano Breitschmids Darstellung, ist ein spontaner Plan irgendwann ausser Kontrolle geraten. Er gibt zu, Giorgio S. die Adresse seiner Eltern und ein Foto der Villa gegeben zu haben. An Weihnachten 1990 hätte die ganze Familie – Vater, Mutter, Sohn Christian und dessen Grossmutter – ausgelöscht werden sollen, um auf einen Schlag ans Erbe zu kommen. Ein Erbe, das sich Giorgio S. angeblich vertraglich gesichert hat im Todesfall von Romano Breitschmid. Dieser hat keine hohe Lebenserwartung mehr aufgrund der HIV-Erkrankung.

Giorgios Bruder Riccardo S. kommt irgendwann ins Spiel als derjenige, der das Geplante durchführen soll. Ein erster Versuch schlägt angeblich fehl, und der Adoptivsohn behauptet in der Untersuchungshaft, er habe das Ganze danach abblasen wollen. Nach dieser These wäre Giorgios Bruder Riccardo S. dann unkontrolliert zum Selbstläufer geworden – und habe die Tat im Februar 1991 ausgeführt, gegen den Willen des Adoptivsohns der Ermordeten.

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Romano Breitschmid auf dem Weg zum Gericht. (Screenshot: SRF)

Zwei sterben noch in Haft

Beim Prozess 1995 bleibt unklar, wie es wirklich war, weil sich das Trio gegenseitig die Schuld zuschiebt und es an Beweisen fehlt. Das aber hilft keinem von ihnen. Das Gericht geht davon aus, dass alle drei an der Planung beteiligt waren. Romano Breitschmids Beteuerungen, die eigentliche Ausführung zu verhindern versucht zu haben, nimmt man ihm nicht ab.

Riccardo S. wird zu lebenslänglich Zuchthaus verurteilt wegen Doppelmords an Peter und Ursula Breitschmid. Ausserdem, und hier ging das Gericht recht weit auch wegen versuchtem Mords an Christian und seiner Grossmutter. Er nimmt sich wenig später in der Strafanstalt Thorberg das Leben. Giorgio S. erhält eine Zuchthausstrafe von zwölf Jahren wegen Anstiftung zum Mord. Eine zweite Instanz bestätigt das Urteil. 1999 wird er entlassen und verschwindet in Grossbritannien, wo er 2008 stirbt.

Romano Breitschmid schliesslich wird zu 14 Jahren Zuchthaus verurteilt wegen Mord und Mordversuchs. Wenige Monate später erliegt er im Gefängnis seiner HIV-Erkrankung.

Alle drei reichen nach dem Urteil Berufung gegen das Urteil ein. Zwei von ihnen erleben diese nicht mehr, im Fall von Giorgio S. bestätigt die zweite Instanz den Schuldspruch und die Strafe.

Die Details bleiben im Dunkeln

Zwei Täter in der Haft verstorben, der dritte einige Jahre, nachdem er seine Strafe verbüsst hat, ebenfalls: Juristisch bleibt im Doppelmord von Wohlen nichts mehr zu klären. Bei vielen Beobachtern des Prozesses sind aber hartnäckige Zweifel und Fragen geblieben. Hätte es für das Gericht eine Grundlage gegeben, den von der Krankheit gezeichneten Romano Breitschmid, dem nicht mehr viel Zeit blieb, aus der Untersuchungshaft zu entlassen? Hat er die Wahrheit gesagt, als er schilderte, wie er das Verbrechen verzweifelt zu verhindern versuchte? Und macht das überhaupt einen Unterschied, nachdem er, wie er selbst zugab und wie es von Zeugen bestätigt wurde, zu einem bestimmten Zeitpunkt aktiv an der Planung der Ermordung seiner Eltern beteiligt war? Möglicherweise auch des Bruders und der Grossmutter?

Für viele aus dem Umfeld der beiden Opfer ist der Fall bis heute eine Tragödie, die über den Tod zweier Menschen hinausgeht. Sie hatten dem Clown und Artisten Romano Breitschmid, dessen Talent offensichtlich war, eine grosse Karriere zugemutet. Was alles dazu geführt hat, dass es stattdessen der Tod hinter Gittern wurde, wird sich niemals klären lassen.

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Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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