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Zu viel Fussball für Höpli

Der Ex-Chefredaktor liest «seiner» alten Zeitung die Leviten

Die Ausgabe vom letzten Mittwoch der Regionalzeitungen von CH Media hat für ihn das Fass zum Überlaufen gebracht. Gottlieb F. Höpli, ehemaliger Chefredaktor des St.Galler Tagblatt, beklagt sich in über den Fussball-Overkill.

Stefan Millius am 01. Juli 2021

Wer ungefragt Teil eines gross angelegten Mailverteilers wird, erlebt manchmal einiges.

Er lege als Leser und Bürger «hiermit Protest ein gegen den publizistischen Overkill, den Sie heute zum Thema Fussball-EM veranstalten», schreibt Gottlieb F. Höpli in einem Mail an einen Verteiler aus Vertrauten, aber auch einigen Verantwortlichen des Verlags CH Media. Der frühere Tagblatt-Chefredaktor, später Kolumnist bei «Die Ostschweiz» und heute beim Nebelspalter, erträgt die Ausgabe vom 30. Juni schlecht. «Rund 12 Seiten Fussball gegen 11 Seiten Rest der Welt, Schweiz, Region, Wirtschaft, Kultur – das ist ein eklatantes Missverhältnis, das durch gar nichts gerechtfertigt ist. Da hat eine Redaktion den Sinn für Proportionen – und für ihre Aufgabe – völlig verloren. Und irrt sich gewaltig, wenn sie glaubt, dass sie damit alle ihre Leserinnen und Leser erfreut.»

Aus seiner Sicht seien es vor allem die Medien- und Marketingverantwortlichen, die eine solche publizistische Fussballübermacht mögen, diese würden aber «nicht gerade zur Kategorie der guten Leser zählen.» Er habe nichts gegen einen redaktionellen Sondereffort nach dem sensationellen Sieg der Schweiz, das hätten viele andere Medien auch getan, «aber doch nicht eine solche Lawine, die nicht mehr aufhören wollte», so Höpli. Zumal das in einer Zeit geschehe, «in der sonst auf Teufel komm raus gespart und ausgedünnt wird, wo die Kulturberichterstattung ebenso leidet wie viele andere Themen und Veranstaltungen, die einfach keinen Platz mehr in der Zeitung finden.»

Der ehemalige Chefredaktor stört sich auch an der Wortwahl der Regionalzeitungen von CH Media. Diese hatten von einem «Glück einer ganzen Nation». Er gehörte definitiv nicht dazu und fühle sich ausgegrenzt. Das Milliardengeschäft mit dem Fussball mache ihn nicht glücklich. «Auch dann nicht, wenn eine Mannschaft aus Fussball-Söldnern und -Secondos unter dem Namen 'Schweiz' aufmarschiert. Und die Nationalhymne peinlich berührt über sich ergehen lässt. Und dann sogar ein Spiel gewinnt. Das Glück einer ganzen Nation? Ohne mich.»

Höpli greift auch in die Anekdotenkiste. Im Jahr 2006, als er das «St.Galler Tagblatt» verantwortete, sei die Medienlawine schon vor Beginn der Fussball-WM «ins Unerträgliche» angeschwollen, und er habe seiner Redaktion damals eine Ausgabe ganz ohne Fussball verordnet. Nachlesen kann man das in Höplis Kolumnensammlung «Heute kein Fussball», die als Buch erschienen ist.

Das E-Mail, breit gestreut, hat spannende Reaktionen erzeugt, die zum Teil unter allen Empfängern geteilt wurden. Hans Fässler, Urgestein der St.Galler Linken, sieht sich überrascht, dass er für einmal derselben Meinung ist wie der liberale Höpli. Das Thema Fussball treibt auch ihn um, kurz darauf erschien in der «WoZ» ein Text von Fässler, in dem dieser die «unerklärliche Begeisterung der Linken» für die Schweizer Nationalmannschaft thematisiert.

Christoph Ullmann, ehemaliger SRF-Redaktor und Leser der «Thurgauer Zeitung» schliesst sich den Ausführungen Höplis «vorbehaltlos an». Es sei für ihn «schon mehr als mühsam, den fast täglichen, mehr oder weniger ganzseitigen FC-St.Gallen-Hymnus – den faktischen Leitartikel des Tagblatts – übersehen zu müssen, welcher offenbar eine der vielen (vergeblichen) Anstrengungen ist, der hiesigen Leserschaft St. Gallen als Hauptstadt der Ostschweiz schmackhaft zu machen.» Im Fall des Schweizer Siegs gegen Frankreich sei es zu einem «Verlust an Augenmass» gekommen.

Allerdings hat Gottlieb F. Höpli auch die Chefetage der zuständigen CH Media mit seinem Protest bedient, und dort klingt es naturgemäss anders. Patrik Müller, Chefredaktor der Zentralredaktion des Verlags wie auch der «Schweiz am Wochenende», schlägt zurück mit einem Verweis auf Höplis neuen Auftraggeber, die Onlineausgabe des Nebelspalters: Dieser sei «am Tag nach der Achtelfinal-Qualifikation ganz bestimmt näher beim Volk» gewesen, denn dort sei kein einziger Text zum Sie gegen Frankreich erschienen. Das sei «ein starkes Zeichen gegen den Overkill» so Müller sarkastisch – vermutlich durchaus im Wissen, dass Höpli als freier Autor nicht für die redaktionelle Stossrichtung des Nebelspalter zuständig ist.

Doch auch dieser Einwurf bleibt nicht unbeantwortet. Konrad Hummler, Verwaltungsratspräsident des Unternehmens, das den «Nebelspalter» herausgibt, reagiert schlagfertig. Seine Zeitung habe Fussball durchaus thematisiert, und zwar in der Form eines Artikels von Chefredaktor Markus Somm über einen Schweizer Sklavenhalter aus grauer Vorzeit. «Die Parallelen zwischen dem heutigen, von allen (ausser GFH und Konsorten) bejubelten Fussball und dem damaligen Menschenhandel sind ja augenfällig. Ebenso das fehlende Mass an Sozialkritik, wie dem Ganzen begegnet wird, damals wie heute.»

Eine Frage bleibt bei der ganzen Debatte ausgeklammert. Nachdem die fussballinteressierte Schweiz am späten Abend des Montag, 28. Juni via TV und Onlinemedien informiert war über jedes Detail des Siegs und am Dienstag noch geballt nachgelegt werden konnte – warum dann am Mittwoch noch so viel Druckerschwärze darauf verwenden?

Die einfache Antwort: In der Ausgabe reichte es drucktechnisch nur noch für das Notwendigste. Deshalb wurden die Zeitungsleser am Mittwoch in aller Breite noch einmal mit dem bedient, was sie grösstenteils schon lange wussten. Das ist das Wesen der gedruckten Medien. Und für die, die Bemerkung sei erlaubt, braucht es jetzt im Rahmen der geplanten Medienförderung noch einige Jahre lang hunderte von Millionen Franken an Steuergeldern. Um eine «Transformation» hin zum digitalen Journalismus zu ermöglichen, der längst Realität ist.

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Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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