Knöppel dürfen nicht in der St. Galler Grabenhalle auftreten. Natürlich hilft dabei auch der Name der Band nicht: Wer schon fast wie «Köppel» heisst, hat es heutzutage sowieso schwierig. Was ist schon ein einziger Buchstabe in Zeiten, wo erst geschrien und dann (vielleicht) nachgedacht wird?
Hans Fässler von der Grabenhalle wird in einem Beitrag auf srf.ch in indirekter Rede so zitiert: «Die Texte der Band zeigten immer die männliche Sichtweise, ein Zelebrieren und Abfeiern von männlichen Genitalien. Und das geht heute offenbar nicht mehr.»
Vor einigen Tagen ging ich durch die Stadt - es war nicht St. Gallen - als ich zwei Poster mit Abbildungen von Klitorismodellen nebeneinander kleben sah. Ich fragte meine Begleitung, die aus Ostasien stammt, was das sei. Sie hatte kein Ahnung. Auf meine Erklärung, dass es sich dabei um ein Klitorismodell handle, wurde ich umgehend als Sex-Grüsel beschimpft, der an nichts anderes denken könne. Dass es sich dabei wirklich um öffentlich zur Schau gestellte Klitoris-Modelle handeln könnte, schien ihr schlicht und einfach undenkbar.
Heute gibt es keine feministische Demo, an der nicht mehr oder weniger gelungene Zeichnungen weiblicher primärer Geschlechtsorgane mitgeführt werden. Städte werden mit Abbildungen von Klitorismodellen zugepflastert. Warum auch nicht?
Natürlich geht es den Aktivistinnen dabei genau um eins: Die weiblichen Geschlechtsorgane abzufeiern - und zwar in einer pointiert weiblichen Sichtweise. Sollen sie doch! Body Positivity, Freude und Lust am eigenen Körper sind prinzipiell nur zu begrüssen: Lieber Lust als Frust. Doch warum nur für die Einen - und für die Anderen nicht?
(Ob man allerdings ausgerechnet in Städten, diesen Hochburgen der naturfeindlichen Zivilisation, gerade das zelebrieren soll, was die Menschheit mit der Tierwelt gemein hat, bleibe dahingestellt. Zu viel Trieb reimt sich bekanntlich nicht unbedingt auf Kultur.)
Mit ein Grund für den Nicht-Auftritt der Band sei der Umstand, dass jetzt eine eine jüngere Generation am Ruder sei, die anders ticke, heisst es von Seiten der Grabenhalle. Aber wie tickt sie denn, diese jüngere Generation?
Definierte die Linke - und um Linke geht es hier unzweifelhaft - die Geschichte einst als eine Geschichte von Klassenkämpfen, so könnte man heute meinen, sie verstehe die Geschichte vielmehr als eine Geschichte von Geschlechter- oder von Rassenkämpfen.
Bis vor wenigen Jahren hätte man eine Definition von Geschichte als "Geschichte von Rassenkämpfen" unzweifelhaft der rechtsextremen, nazistischen Ecke zugeordnet. Das zeigt, wie weit es mit der zeitgenössischen Linken gekommen ist. Selbst wenn man natürlich versucht, den Rasse-Begriff von biologischen Merkmalen zu lösen: Opfer von Rassismus ist, wer "rassifiziert" wird und nicht, wer bestimmte physische Merkmale aufweist. Aber ein weisser Mann als Rassismus-Opfer? Auch wenn in diesem Diskurs prinzipiell die Opferperspektive eingenommen wird, also Opfer ist, wer sich selbst als Opfer fühlt: Irgendwie ist ein "objektiver" Opferstatus eben doch wieder an die Hautfarbe oder andere körperliche Merkmale gebunden.
Im kommunistischen Manifest definierte Marx die Zukunft der Arbeiterklasse einst so: "Die Proletarier dieser Welt haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen."
In der Realität sah das vermeintliche Paradies dann aber eher so aus, dass sich der Staatsapparat der Produktionsmittel bemächtigte und die Produktion organisierte: (Dies wiederum, nachdem sich der Parteiapparat des Staatsapparats bemächtigt hatte.) Also Bürokraten-Diktatur anstatt "Reich der Freiheit". Letztmals versucht vom französischen Präsidenten François Mitterrand nach seinem Wahlsieg 1981. Zum Glück für sein Land war er einige Jahre später gezwungen, die soeben verstaatlichten Banken und Industriebetriebe wieder zu privatisieren.
Dass sich der Staatsapparat für Kreativität nicht eignet, zeigte sich exemplarisch im real existierenden Sozialismus: Die Wirtschaft wurde quasi auf dem Niveau eingefroren, auf dem der Staat sie übernahm. Darum sahen die Trabis in der DDR auch so aus, als stammten sie noch aus dem 1950er Jahren.
Die Wirtschaft in einem marktwirtschaftlich organisierten Land wächst, wird produktiver - die Wirtschaft in einem staatswirtschaftlich organisierten Land hingegen stagniert. Oder anders gesagt: Im Kapitalismus werden letztlich auch die Armen reich, weil der Kuchen wächst - im Sozialismus bleiben alle gleich arm.
Dass eine Wirtschaft auch wachsen und es dadurch allen besser gehen kann - dieser Gedanke ist dem linken Universum gänzlich fremd. Die Welt befindet sich in dieser Denkweise für immer im Status Quo, Wachstum existiert nicht. Dafür wird eine angeblich zunehmende Ungleichheit beklagt, ganz so, als sei Gleichheit das höchste Gut: Besser alle arm, als Einige reich und die Anderen bloss wohlhabend.
Egal ob die Linke die Geschichte wie früher als eine Geschichte von Klassenkämpfen oder eher wie heute als eine Geschichte von Geschlechter- oder Rassenkämpfen definiert - etwas hat sich nicht verändert: Es geht immer nur um Verteilung. Ganz so, als wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, dass der Kuchen wächst und mehr für alle da ist. Die linke Welt ist prinzipiell ein Nullsummenspiel, wo die Einen nur mehr haben können, wenn die Anderen weniger haben. Welch traurige, deprimierende Welt!
Die Realität war dabei natürlich eine andere: Die Nachkriegsgeneration erlebte tatsächlich einen wirtschaftlichen Aufschwung. Selbst für den unteren Mittelstand gab es ein Eigenheim und gegebenenfalls gar noch ein Ferienhäuschen. Die trickle down economy war Realität. Entsprechend wurde die linke (männliche) Arbeiterschaft träge - das Interesse an der proletarischen Revolution und am sozialistischen Paradies schwand gegen Null.
War die Arbeiterklasse zufrieden, mussten hält andere Kreise "befreit" werden - der Klassenkampf wurde zum Geschlechter- oder "Rassenkampf". Immer aber blieb er ein Nullsummenspiel: Was der eine gewinnt, verliert der andere. Die Möglichkeit wirtschaftlichen Fortschritts wurde auch hier nicht in Betracht gezogen.
Der Kampf fand nicht mehr in den Fabriken statt - der "Generalstreik als Mythos des Proletariats" (Georges Sorel) hatte ausgedient. Sondern bemächtigte sich der Strasse. Der Kampf um Gleichberechtigung konnte ja kaum als Massenbewegung in den Schlafzimmern ausgetragen werden.
Nicht nur wurde der Kampf in den öffentlichen Raum getragen, sondern der öffentliche Raum selbst wurde dadurch ebenfalls zur Kampfzone: Wer über den öffentlichen Raum verfügt, kann sich äussern - alle anderen bleiben stumm.
Daher der Fanatismus, mit dem Andersdenkende aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden sollen: Der "Kampf" gegen echte oder vermeintliche "Nazis" in schweizerischen Städten ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Versuch, den eigenen absoluten Dominanzanspruch durchzusetzen. Um in jenen Kreisen als "Nazi" zu gelten, reicht es heute, bürgerlich zu sein.
Auch dieser Kampf um den öffentlichen Raum ist letztlich gekennzeichnet vom linken Paradigma, dass die Ressourcen limitiert sind und kein Wachstum stattfindet: Was der andere hat, das habe ich nicht.
Eine Ironie der Geschichte ist, dass sich mit dem Aufkommen des Internets der Platz vervielfacht hat, auf dem auf die eigenen Anliegen aufmerksam gemacht werden kann. Jeder kann sich auf dem Internet ausbreiten und sich mit Gleichgesinnten vernetzen. Doch gerade in diesen Zeiten, wo die Möglichkeit, sich Sichtbarkeit zu verschaffen, so gross ist wie noch nie, wird ausgerechnet ständig ein Mangel an Sichtbarkeit reklamiert.
Der Appetit kommt mit dem Essen: Je mehr Sichtbarkeit man hat, desto mehr Sichtbarkeit verlangt man. Wer sich auf dem Internet ausbreitet, möchte sich auch auf der Strasse breit machen. Die Sichtbarkeit ist die Droge der modernen Zeit: Man kann nie genug davon bekommen.
Die Anspruchsgruppen haben sich vervielfacht - und damit auch die Vergleichsmöglichkeiten. Eine direkte Folge des technischen Fortschritts: Heute bedarf es deutlich weniger Mittel, um sich als Gruppe Sichtbarkeit zu verschaffen. Man muss nicht mehr Demonstrationen organisieren, Bewilligungen einholen - ein paar Mausklicks reichen.
Aber je mehr Gruppen, desto mehr Vergleichsmöglichkeiten. Und je mehr Vergleichsmöglichkeiten, desto mehr Gewinner und Verlierer - eine simple Frage der Arithmetik. Ausgerechnet der von den Linken so gern ignorierte technische Fortschritt, d.h. das Internet, erleichtert die Vergleichbarkeit ungemein.
Steigt die Zahl der Gewinner und Verlierer, dann steigt auch die Chance dass die "ideologisch richtigen" Gruppen zu den Verlieren gehören - und sei es nur rein zufällig. Empörung lässt sich schüren und bewirtschaften.
Irgendetwas findet sich immer, mit schon fast zwangsläufiger Notwendigkeit. Nehmen wir einmal an, die Schweiz wäre ein Paradies auf Erden, wo Frauen endlich mehr verdienen als Männer. Und nun finde man heraus, dass lesbische Frauen etwas weniger verdienen als heterosexuelle Frauen (aber immer noch mehr als Männer): Das Paradies ist augenblicklich gestorben, dafür ein Aufschrei garantiert. (Nicht aber umgekehrt: Heterosexuelle und Männer können per definitionem nicht diskriminiert werden.)
Ein anderes Beispiel: Heutzutage wird ein Mangel an Frauen-spezifischer Medizin beklagt. Mit ein Grund dafür sei, dass der Grossteil der Probanden bei Medikamentenversuchen männlich ist. Wäre es umgekehrt, wäre die Mehrheit der Versuchsteilnehmer weiblich - jede Wette, feministische Kreise würden sich empören, dass Frauen als "Versuchskaninchen" für Männer dienen müssen. (Man sich das Argument ausmalen: Weil Frauen weniger verdienen, müssen sie sich als "Versuchskaninchen" andienen.)
Irgendwo im öffentlichen Raum hängt ein Klitoris-Modell und feiert die weibliche Anatomie. So etwas erregt heute kein Aufsehen mehr. Schliesslich gibt es im urbanen Raum mehr als genug Platz, wo sich allerlei Dinge aufhängen lassen. Wer will, könnte daneben ja ein stilisiertes Bild der männlichen Anatomie hängen.
Könnte, ja - in der Theorie. Hängt aber dort tatsächlich ein männliches Modell, werden männliche Bedürfnisse thematisiert - dann dürfte ein solches Plakat nicht allzu lange hängen.
Zwar wird dadurch niemandem etwas weggenommen, es gibt ja schliesslich genügend Platz im öffentlichen Raum, wo sich alle äussern können, die sich äussern möchten. Aber weg muss es wohl trotzdem. Ganz so, als würde die Sichtbarkeit anderer Anliegen die eigene Sichtbarkeit beeinträchtigen.
Dasselbe auch im Fall der Band "Knöppel": Mit einem Auftritt in der Grabenhalle macht sie keiner Frauenband, die weibliche Bedürfnisse (egal ob ironisch gebrochen oder nicht) thematisiert, den Platz auf der Bühne streitig. Keiner Frau wird etwas weggenommen, wenn sich Männer an sich selbst erfreuen. Wie umgekehrt ja auch nicht.
Doch egal, was Mann heutzutage macht - er macht es mit Sicherheit falsch. Singt ein Rapper, dass er jede Frau bekommen kann, die wr haben will, dann ist er ein Macho. Zu Recht wird ein solches Frauenbild kritisiert - denn Vergewaltigung ist immer noch eine gesellschaftliche Realität. Wird dieses Macho-Bild aber persifliert, dann ich es auch wieder nicht recht.
Daraus lässt sich eigentlich nur ein Schluss ziehen: Die männliche Anatomie ist von Natur aus böse. Und wenn sich ein Mann freut, dann geht diese Freude auf Kosten der Frauen. Welch engstirniges, von Missgunst getriebenes Weltbild!
Den Besuchern von Knöppel-Konzerten wird ihre Bierseligkeit vorgeworfen. Vielleicht sollte, wer anderen Leuten Bierseligkeit vorwirft, besser einmal den eigenen Bierernst thematisieren.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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