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Imagekorrektur

Der Kanton Thurgau: Der besondere Charme der Provinz

Mostindien, Langfinger, schlechte Autofahrer - abgelutschte Klischees verstellen den Blick auf den Thurgau. Der Kanton ist weit facettenreicher als sein Image.

Adrian Zeller am 05. August 2024

Eine Werbeaktion der Winterthurer Stadtpolizei sagt einiges über die Aussenwahrnehmung der Thurgauerinnen und Thurgauer aus: 2022 sollte eine Plakataktion innerhalb des Thurgaus Stellenbewerber ansprechen. Die Slogans lauteten: «Stadtpolizei sucht Landeier. Am besten ausgekochte» sowie «Genug vom Job als Dorf-Sheriff?»

Thurgau

Brisantes Treffen

Ein denkwürdiges Ereignis im Jahr 2016 zeigt ebenfalls Erhellendes über das Bild des Thurgaus: Ungläubiges Staunen als schwarz-weiss Videoaufnahmen einer Überwachungskamera über Bildschirme in den Schweizer Wohnzimmern flimmerten. Sie zeigten ein Treffen einer Gruppe von Männern in einem Säli mit rustikalem Interieur. Das Gespräch in süditalienischem Dialekt war ein Austausch unter Mafiamitgliedern.

Ein Ahnungsloser hätte es für einen harmlosen Plausch von Exil-Italienern gehalten. Es fand im Zentrum von Wängi statt, einer unauffälligen Thurgauer Gemeinde mit knapp fünftausend Einwohnern. Sie seien ein Bocciaclub, sagten die Herren von sich. Tatsächlich besprachen sie weitere geschäftliche Aktivitäten der kriminellen Organisation.

Vermeintliche Bidermänner

Die Mafia im Thurgau, in Mostindien? Genau weil es schwer vorstellbar scheint, richteten die Kriminellen am Lauf des Flusses Murg eine heimliche Drehscheibe ein.

Die auf das Thema spezialisierte Journalistin Madeleine Rossi nannte in einem Interview zwei Hauptgründe für die Beliebtheit der Schweiz für das Organisierte Verbrechen: Untertauchen und Geld waschen. «Diese Leute verhalten sich sehr diskret und leben so wie jedermann.»

Sie seien freundliche Nachbarn, sagten die befragten Anwohner. Man habe nichts Auffälliges festgestellt. Die «netten Nachbarn» sitzen mittlerweile wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in Haft.

Thurgau lockt Promis an

Abgedroschene Sprüche wie «hinter Winterthur hört die Schweiz auf» wirkten wohl wie eine Art Werbeslogan für die Mafia: In der ländlichen Idylle zwischen widerkäuenden Kühen und surrenden Heutrocknungsanlagen kommt kaum einer auf die Idee, hier gehe es auch um Schutzgelderpressung, Drogenlieferungen und Geldwäsche.

Der Thurgau, dessen sanften Hügel mit Weilern garniert sind und die Hektik der urbanen Zentren fehlt, zieht ganz unterschiedliche Personengruppen an. Ein ganze Reihe von Prominenten liess sich im Kanton nieder: Anneliese Rothenberger, Lisa della Casa, Ruth Maria Kubitschek, Roberto Blanco, Udo Jürgens, Pepe Lienhard und Jan Ullrich sind Grössen aus Kultur und Sport.

Eine zweifelhafte Bekanntheit erreichte der Winterthurer Rolf Erb, der im Schloss Eugensberg residierte. Der Konzernerbe wurde 2012 vom Bezirksgereicht Winterthur wegen gewerbsmässigem Betrug, Urkundenfälschung und Gläubigerschädigung zu einer unbedingten Haftstrafe von acht Jahren verurteilt.

Vernachlässigte Baudenkmäler

Auf einer Anhöhe am Untersee steht das Schloss Wolfsberg, das der UBS als Weiterbildungszentrum dient. In der Zeit um den 2. Weltkrieg lebte dort der Krimischriftsteller und Nachrichtendienstoffzier Dr. iur. Paul Eduard Meyer. Er empfing in seinem feudalen Sitz den SS-General Walter Schellenberg. Mit ihm wollte er einen Nichtangriffspakt für die Schweiz aushandeln.

Eine weitere illustre Figur ist der Wiener Financier Christian Baha. 2007 kaufte dieser das Schloss Sonnenberg. Aus seinen vollmundig öffentlich verkündeten Renovationsplänen ist bis heute wenig mehr als eine Dauerbaustelle geworden; ein weit herum sichtbarer Baukran ist das zweifelhafte Wahrzeichen.

Der Winterthurer Bruno Stefanini seinerseits kaufte die Schlösser Salenstein und Egnach. Der passionierte Sammler von Liegenschaften und Kunstgegenständen war zunehmend von seinen vielfältigen Besitztümern überfordert. Mittlerweile sind beide Anwesen veräussert, ihre Zukunft dürfte rosiger aussehen.

Erhöhte Zuwanderung

Die Liste der illustren Eigentümer von Schlössern im Thurgau liess sich erheblich verlängern. Auch Menschen ohne klingende Namen grosses Vermögen zog und zieht es in Kanton in der Ostecke der Schweiz, wo sich keineswegs Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Die Statistik verzeichnete 2023 eine deutlich gestiegene Zuwanderung aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland. Jeder vierter Einwohner im Thurgau besitzt einen ausländischen Pass, in konkreten Zahlen: 77 568 Personen.

Auch Arbeitskräfte aus dem Wirtschaftsraum Zürich zieht es in den Thurgau, wo die Wohnungsmieten und die Liegenschaftspreise noch einigermassen bezahlbar sind, und die Lebensqualität hoch ist. Dies wissen auch Erholungssuchende zu schätzen, die sich etwa im Kloster Fischingen oder in der Kartause Ittingen eine Auszeit gönnen.

Im Thurgau kann man leichter als anderswo die Seele baumeln lassen. Das Gebiet zwischen Kreuzlingen Hafen und Hörnli bietet viele Freizeitmöglichkeiten, vom Wandern im Rebberg, über eine Besichtigungstour im Mostereimuseum bis zum Schwimmen im lieblichen Seebachtal, um nur einige Beispiele zu nennen. Und auch kulturell bietet der Thurgau eine nuancenreiche Palette. Nennenswerte Beispiele sind etwa Events im kleinen Rahmen in der ehemaligen Schule im Hinterthurgauer Weiler Au, die Rosen- und Kulturwoche in Bischofszell sowie die Grossveranstaltung Sommerdays-Festival in Arbon.

Thurgau

Verzerrtes Image der Wirtschaft

Gemäss Klischee ist der Thurgau primär ein Landwirtschaftskanton. Allerdings: Die Realität ist eine andere, gerade mal rund 2 Prozent tragen Hühnerfarmen, Obstplantagen und Schweinemastbetriebe und weitere bäuerliche Tätigkeiten zum Bruttoinlandprodukt des Kantons bei. Volkswirtschaftlich ist die Maschinen- und Metallindustrie, das Baugewerbe sowie Nahrungsmittel- und Kunststoffindustrie wesentlich bedeutsamer.

Im Thurgau sind rund 20 000 KMU aktiv, sie bieten rund 140 000 Arbeitsplätze an. Dazu zählen prominente Namen wie Stadler Rail in Bussnang, die Zugkompositionen in alle Welt liefert. Auch Bernina gehört zu den bekannten Playern im Kanton. Mit der Bernina 9900 bringt sie soeben ein weiteres Erfolgsmodell auf den Markt, das auf IT setzt. In rund 50 Länder wird der Stabmixer Bamix versandet. Der patentierte Designklassiker aus Mettlen wird seit 60 Jahren produziert.

Die Model-Group in Weinfelden produziert an 15 Standorten in Europa Kantonverpackungen und erwirtschaftet damit einen Umsatz von über 900 Millionen Franken. Ebenfalls aus kleinen Anfängen entwickelte sich der Hersteller von Büroeinrichtungen Lista in Erlen, die heute international tätig ist.

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Bevölkerungsanstieg erwartet

Falls das Generationenprojekt Wil West auf dem Gebiet des Kantons Thurgau eines Tages realisiert wird, könnte dies in der Region einen bevölkerungsmässigen Wachstumsschub bewirken. Auf dem entsprechenden Areal sollen 2000 bis 3000 Arbeitsplätze für hochqualifizierte Fachkräfte entstehen. Gemäss Hochrechnungen werden die derzeit rund 290 000 Einwohner des Kantons bis 2050 auf 350 000 ansteigen.

Zwischen Bottighofen und Bichelsee sind auch kleinere Betriebe aktiv, die hochspezialisierte Produkte herstellen und international zu den Champions ihrer Branche gezählt werden: Gemeint ist etwa die Humbel Zahnräder AG in Kradolf, die Getriebelösungen für den Bau von Eisenbahnzügen sowie für den Motorrennsport liefern.

Membranpumpen für die Förderung von Flüssigkeiten und von Gasen entstehen in Balterswil bei der Firma KNF Neuberger AG. Einer ihrer Kunden ist das Forschungszentrum CERN in Genf. Die Baumer Electric in Frauenfeld lieferte Komponenten für die europäische Raumsonde Rosetta, die den Kometen Churyumov-Gerasimenko wissenschaftlich erforschte.

Hohe Qualität

Die ebenfalls in Frauenfeld ansässige Firma Sky Frame AG errang verschiedene Preise mit ihren rahmenlosen Schiebefenstern. Der Thurgau ist kaum von markanten topografischen Höhenunterschieden geprägt, gleichwohl entstehen in ihm Seile von höchster Qualität: Die Romanshorner Fatzer AG beliefert Seilbahnunternehmen in verschiedenen Ländern.

Völlig andere Produkte fertigt die General Dynamics European Land Systems – Mowag GmbH in Kreuzlingen. Ehemals produzierte das Unternehmen Spezialfahrzeuge für die Post und für Feuerwehren, mittlerweile ist es auf Radpanzer spezialisiert.

Militärfahrzeuge stellte einst auch die Arboner Firma Saurer her. Das Strassenbild in der Schweiz war zudem über viele Jahre auch von Autobussen sowie von Lastwagen aus den Fabrikhallen am Bodensee geprägt. Im zweiten Unternehmenszweig, der Herstellung von Textilmaschinen, war Saurer phasenweise Weltmarktführer.

Bichelsee zum Zweiten: Dort begann 1899 die Erfolgsgeschichte der mittlerweile in der Schweiz omnipräsenten Raiffeisenbanken. Einer ihrer prominenten Kunden in Bichselsee ist der inoffizielle Botschafter des Thurgaus: Unternehmer und Olympiasieger Hausi Leutengegger.

_(Bilder: Adrian Zeller) _

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Autor/in
Adrian Zeller

Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.

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