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Serie | Geheimnisse & Enthüllungen

Die älteste Datenschutzvorschrift der Welt: die Beichte – Ein Pfarrer gibt Einblicke

Als Beichtvater kommt Albert Wicki allerhand zu Ohren. Das Kirchenrecht verpflichtet ihn zu absoluter Verschwiegenheit. Mit der «Die Ostschweiz» spricht Pfarrer Wicki über das heilige Sakrament und darüber, wann er als Beichtvater an seine Grenzen stossen würde.

Michel Bossart am 24. März 2023

Albert Wicki wurde vor 55 Jahren im Entlebuch geboren und wusste schon früh, dass er Priester werden wollte. Nach seinem Studium kam er vor rund 25 Jahren wegen eines guten Studienfreunds in die Ostschweiz. 15 Jahre lang war er im Raum Altstätten tätig. Seit sechs Jahren ist er Pfarrer in der Seelsorgeeinheit Gäbris, die die Pfarreien Teufen-Bühler-Stein, Gais und Speicher-Trogen-Wald umfasst und wo er sich regelmässig Zeit nimmt, die Beichte abzunehmen.

Herr Wicki, wann haben Sie eigentlich das letzte Mal gebeichtet?

Am Rosenmontag. Ich beichte immer vor den hohen Feiertagen, und zwar bei meinem ehemaligen Philosophieprofessor. Er ist Priester im Kloster Einsiedeln; mein geistlicher Vater, ein weiser Mann.

Es ist anzunehmen, dass Sie eher lässliche Sünden gebeichtet haben. Möchten Sie sagen, um was es ging?

Ich bin auch nur ein Mensch, der Grenzerfahrungen macht und nicht über diesem Leben steht. Ich kenne mich und meine schwierigen Bereiche gut, mit denen ich immer wieder zu kämpfen habe. Ja, ich bin kein perfekter Mensch, aber ich arbeite an mir. Man kann Gott nur erkennen, wenn man sich selbst erkennt und umgekehrt. Die Beichte hilft mir, mich kennenzulernen. Wer bin ich? Warum mache ich Sachen, die mir und anderen nicht guttun? Und dies geschieht alles im Raum dessen, der immer Gegenwart ist, nämlich Gott.

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Mal im Beichtstuhl?

Oh ja! Ich war acht Jahre alt und sehr aufgeregt, denn ich hatte ein riesiges Problem: Mir war schon mit sechs klar, dass ich mal Priester werden wollte. Aber in der 2. Klasse habe ich mich in ein Mädchen verliebt. Das hat eine Krise ausgelöst. Der Pfarrer lächelte bloss und sagte: «Albert, du bist noch so jung. Freu dich am Leben und an der Liebe. Du wirst deinen Weg machen.» Er war wie ein Vater für mich und die Beichte eine schöne Erfahrung. Schon damals redete man im Beichtgespräch übers Leben, über das was einen betrifft. Und das im komplett geschützten Rahmen: 100 Prozent des Gesprächs bleibt geheim. Nichts ist so heilig wie das Beichtgeheimnis.

Und wie war Ihr erstes Mal als Beichtvater?

Ich habe im Rheintal Schulkindern die Erstbeichte abgenommen. Das Gespräch eröffnete ich mit der Frage, was im Leben gut läuft, wofür mein Gegenüber dankbar ist: beim Schatz des Lebens und nicht mit der Sünde; denn es gibt immer mehr Gutes als Schlechtes. Erst danach fragte ich: «Was beschäftigt dich, was willst du loswerden, was schmerzt dich oder was tut Dir leid?» Das Gespräch nimmt dann seinen Lauf. Wichtig ist auch: Ich frage nie jemanden aus. Wenn man etwas nicht sagen will, dann muss man das auch nicht sagen. Die Beichte ist kein Verhör. Aber ich hatte noch nie jemanden, der gar nichts gesagt hätte! Das Bedürfnis, zu reden, existiert.

Wie wird man die Sünden los?

Indem man sie dem dreieinigen Gott hinlegt und letztlich auch bereut. Ich bin da als Priester nur ein Werkzeug. Übrigens gebe ich nie eine Busse auf: Den Kindern sage ich, sie sollen zum Dank ein Kerzlein anzünden und Erwachsenen, ein Vaterunser beten oder jemandem ein gutes Werk tun. Das Gespräch endet dann mit «Geh in Frieden»; das ist sehr schön, zu sagen.

Welche Sünden werden Ihnen am häufigsten gebeichtet?

Bei Kindern und Jugendlichen ist es der Zoff in Freundschaft, das Gefühl nicht dazuzugehören und natürlich die Liebe. Und Verletzungen in diesem Bereich. Das ist auch bei den Erwachsenen ein Thema, egal ob gläubig oder nicht.

Mord und Totschlag, Diebstahl und andere Verbrechen werden wohl eher selten gebeichtet. Was tun Sie, wenn Ihnen jemand eine strafrechtlich relevante Tat beichtet?

Während eines Bildungsurlaubs habe ich in der City Church in Frankfurt sechs Stunden am Tag Beichtgespräche geführt. Da hört man dann wirklich alles. Glauben Sie, mich haut nichts mehr um! In Frankfurt lernte ich einen Pater kennen, der in über 10'000 Beichtgesprächen tatsächlich mal einen Mord im Rahmen des Einsatzes in der Fremdenlegion gebeichtet kriegte. Mir ist das noch nie passiert. Solche Sachen geschehen dann doch eher im Film als in der Realität. Diebstahl und Betrug schon: Ich versuche dann, die Person darauf hinzuführen, den Schaden wieder gutzumachen. Wenn das nicht mehr möglich ist, zum Beispiel weil die geschädigte Person zwischenzeitlich gestorben ist, dann soll man zum Beispiel ein Hilfswerk berücksichtigen. Ich hatte gottlob noch nie einen Fall von Pädophilie. Da käme ich echt in einen Konflikt, das gebe ich zu: Ich wüsste nicht, was ich tun würde. Wahrscheinlich irgendeine indirekte Botschaft absetzten, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist.

Belasten Sie manchmal die Beichtgespräche?

Nein. Wenn ein Mensch sich aussprechen kann und ich ihm Hilfe aus dem Glauben bieten kann, dann ist das keine Last für mich. Oft enden solche Gespräche mit Tränen, Tränen der Erleichterung. Ich habe allerdings auch schon jemandem sagen müssen, dass wir nicht mehr weiterkommen und Hilfe bei einem Psychologen gesucht werden sollte. Bei Gläubigen hat das Wort eines Priesters meistens noch Gewicht. Nein, wirklich: eine Belastung sind diese Gespräche nicht für mich. Ich leide eher darunter, dass die Menschen nicht mehr so oft zur Beichte kommen. Die Beichte ist Lebenshilfe und Lebenshilfe ist auch Glaubenshilfe. Und umgekehrt.

Gibt es einen Fall, der ihnen nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist?

Ich kann einen Fall aus Frankfurt nennen: Ein Geschäftsmann kam vor seinen Meetings zu mir und erzählte mir, dass er sich aus diesen und jenen Gründen umbringen möchte. Ich musste ihm sagen, dass es tatsächlich Gründe für ihn gäbe, sich umzubringen. Allerdings gebe es auch gute Gründe weiterzuleben. Aufgrund meines Akzents merkte der Mann, dass ich aus der Schweiz komme und erzählte mir, als ich ihm sagte, dass ich aus dem Entlebuch stamme, von den schönen Sonnenuntergängen am Vierwaldstättersee, die er erlebt hatte. In seinem Fall hätte sein Tod verhindert, dass er jemals wieder solche Sonnenuntergänge hätte sehen können. Ich bin mir sicher: der Mann wurde zu diesem Gespräch geführt. Oder vielleicht schöner gesagt: der Mann wurde dem Leben zurückgegeben.

Wie oft nehmen Sie die Beichte ab?

Einmal in der Woche. Ich habe einen fixen Termin, den ich mir für Beichtgespräche freihalte. Ich bin aber auch immer sehr gerne für Gespräche in der Kirche oder im Pfarrhaus nach telefonischer Anmeldung bereit.

Gibt es eigentlich mehr Frauen oder mehr Männer, die zur Beichte kommen? Oder mehr Kinder?

Das ist ziemlich ausgeglichen. Kinder kommen in der ausserrhodischen Diaspora nicht freiwillig zur Beichte. Wenn die Eltern nicht kirchlich sind, dann kommen die Kinder schon gar nicht. Heute ist ja auch die Beichte vor der Erstkommunion freiwillig.

Gibt es Beichtende, über die Sie sich ärgern?

Praktisch nicht. Es gibt schon Leute, die kommen immer mit dem Gleichen. Oder die sogenannten Skrupulanten, bei denen jede Kleinigkeit schlimm und eine furchtbare Sünde ist. Aber aufregen oder langweilen tu ich mich nicht, einfach, weil ich es so gerne mache.

Sie haben eingangs gesagt, dass Sie selbst regelmässig beichten. Können Sie die Beichte mit einer Metapher beschreiben?

Die Beichte ist Zwischenmenschlichkeit und zugleich ein Geschehen zwischen Gott und der beichtenden Person. Wenn es nach Konflikten zur Versöhnung und einem Handschlag kommt, dann ist das für alle befreiend. Ähnlich ist es bei der Beichte. Wenn ich mal nicht weiterweiss, dann bitte ich den Heiligen Geist in einem Stossgebet um Hilfe – da kommt immer was. Mit dem Himmel bin ich offen und durchlässig – das klingt jetzt furchtbar fromm, aber für mich ist es wirklich so. Es gibt übrigens Psychologen, die beneiden uns um unser Ritual, bei dem ich abschliessend sagen kann: «Es ist gut, geh in Frieden, Gott hat dir alles verziehen». Die Psychologie arbeitet zwar ebenfalls auf die Befriedung hin, allerdings meistens ohne Ritual. Oder sagen wir: Meines ist einfach kraftvoller (lacht).

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Autor/in
Michel Bossart

Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).

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