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Im Gespräch mit Julia Onken

«Die Beschäftigung mit der eigenen Biografie lässt tiefer in das Wunder des Lebens Einblick nehmen»

Wer seine Lebensgeschichte aufschreibt, entdeckt Existenzielles: zum Beispiel den Sinn seines Daseins. Im Gespräch geht Autorin Julia Onken auf die Bedeutung des biografischen Schreibens ein und erläutert, weshalb es von Vorteil ist, sich dabei von einer Fachperson begleiten zu lassen

Die Ostschweiz am 13. August 2023

Sich schreibend mit der eigenen Biografie auseinanderzusetzen, schafft die Voraussetzung, um die eigene Identität neu zu begreifen und damit Klarheit für die persönliche Zukunft zu erlangen. Erfahrungen zu reflektieren und Zusammenhänge zu erkennen, ist allerdings eine herausfordernde Aufgabe. Der von der bekannten Psychotherapeutin, Dozentin und Buchautorin Julia Onken initiierte Lehrgang «Dipl. Biografie-Schreibpädagogin» befähigt die Absolventinnen, Menschen beim Aufspüren und Niederschreiben ihrer Lebensgeschichte zu begleiten.

Julia Onken, der verstorbene Sänger und Komponist Udo Jürgens hat dem Wort einmal ein ganzes Lied gewidmet. Mit einer Strophe des Textes hebt er die Bedeutung des Wortes auf besonders eindrückliche Weise heraus, in dem er feststellt: «Wort, du bist so leise und so sacht. Dabei hast du die grösste Macht, die diesen Erdenball umschliesst und ihn regiert». Welche Bedeutung messen Sie persönlich dem Wort zu?

Wir sind schliesslich Bürger und Bürgerinnen zweier Welten: einer materiellen und einer geistigen. Der Körper ist gebunden an Werden und Vergehen. Das Wort indessen ist nicht raum- und zeitgebunden, also unvergänglich. So ist es wohl nicht verwunderlich, dass wir uns zum Ewigen hingezogen fühlen, denn daraus erschliesst sich die Kraft für die gestaltende Lebensenergie.

Zwischen dem gesprochenen und dem geschriebenen Wort liegen unter Umständen Welten. Wo orten Sie die grössten Unterschiede?

Das geschriebene Wort, vorausgesetzt es ist nicht durch die Kläranlage der Vernunft gefiltert worden, kann unbewusstes Material ans Tageslicht befördern. Werden Texte vorgelesen, wird den Worten Sauerstoff zugeführt und damit kann es in eine noch tiefere Bewusstseinsschicht vordringen.

Eine zusätzliche Bedeutung erhält das Schreiben, wenn das eigene Leben zum Thema wird. Weshalb?

Mit dem Schreiben haben wir die Möglichkeit, vielleicht noch unbekannte seelische Landschaften auszukundschaften. Wir entdecken da nicht nur uns Bekanntes wie sonnige Blumenwiesen, sondern gleichermassen auch beinahe unwegsame Pfade und Sumpfgebiete. Die Auseinandersetzung damit sind schreibtherapeutische Prozesse: Es wird vor allem Belastendes von der Seele geschrieben.

Worum geht es im biografischen Schreiben konkret?

Viele Menschen haben das Bedürfnis, einen Überblick über das eigene Leben zu erhalten. Dazu gehört das Zurückschauen und den roten Faden in der eigenen Geschichte zu erkennen, die Themen, die es zu bearbeiten und zu überwinden galt, zu benennen und dadurch mehr an Selbsterkenntnis zu gewinnen.

Weshalb ist Biografiearbeit aus Ihrer Sicht als Psychologin für den einzelnen Menschen von elementarer Bedeutung und welche Auswirkungen kann ein solcher Prozess auf das eigene Leben haben?

Die Beschäftigung mit der eigenen Biografie lässt tiefer in das Wunder des Lebens Einblick nehmen. Wir entdecken, wie uns eine unsichtbare Kraft ausgerechnet dorthin geführt hat, wo sich die schwierigen Lernfelder befanden. Wir lernen, dass es keinen Grund gibt, für vielleicht problematische Entscheidungen Schuldgefühle zu generieren, sondern lernen, uns mit uns selbst zu befreunden. Spätestens dann können wir verstehen, weshalb das Leben auch mit Hürden und Problemzonen ausgestattet ist, um sich daran zu erproben und sich schliesslich weiterzuentwickeln.

Sie haben den positiven Einfluss des biografischen Schreibens für die Entwicklung eines Menschen früh erkannt und im Jahr 2012 den Lehrgang «Dipl. Biografie-Schreibpädagogin» lanciert, explizit für Frauen. Mit welcher Intention?

Nachdem ich zahlreiche Schreibseminaren geleitet und miterlebt habe, welche segensreiche Wirkung mit der Aufarbeitung der Lebensgeschichte erreicht werden kann, wurde mein Wunsch immer stärker, diese Möglichkeit vielen Menschen zugänglich zu machen. Da ich inzwischen selber bereits im neunten Lebensjahrzehnt angekommen bin, liegt es auf der Hand, mein aus vielen Jahren geschöpftes Wissen weiterzugeben.

Aus welchen Gründen ist es aus Ihrer Sicht bedeutsam, das eigene Leben unter fachkundiger Anleitung zu erforschen?

Die Konfrontation mit der eigenen Lebensgeschichte beleuchtet auch jene Bereiche, die aus Überlebensgründen ausgeblendet worden sind. Da kann es durchaus sowohl zu emotionalen Erschütterungen als auch zu beinahe nicht auszuhaltender Euphorie kommen. Dann ist es wichtig, dass eine Biografie-Schreibpädagogin diese Prozesse fachkundig begleitet.

Bislang haben rund 60 Teilnehmerinnen den Diplom-Lehrgang absolviert. Wozu werden die Absolventinnen befähigt und worauf legen Sie in der Ausbildung besonderen Wert?

Sämtliche Ausbildungen am Frauenseminar Bodensee zielen in zwei Richtungen. Einmal ist die Vermittlung von gezieltem Fachwissen angesagt; zum andern aber geht es aber auch um die Schulung von Sozial- und Selbstkompetenz und selbstverständlich um die Vertiefung und das Verständnis der eigenen Biografie.

Wo arbeiten Biografie-Schreibpädagoginnen?

Sie sind an Schulen bzw. Volkshochschulen, an der Klubschule und in weiteren Bildungsinstitutionen tätig, sie sind bei der Pro Senectute, in Kliniken und Reha-Einrichtungen engagiert, arbeiten für private Lehrinstitute oder gestalten Programme an Urlaubsorten mit kreativen Angeboten oder in Quartiertreffs, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Inwiefern profitieren die Lehrgangs-Teilnehmerinnen auch für sich persönlich von der Ausbildung?

Wer diesen Lehrgang absolviert, weiss sehr viel mehr über sich selbst. Aus diesem Fundus schöpft die Biografie-Schreibpädagogin, um auch andere einfühlsam begleiten zu können. Darüber hinaus kann sie mit dieser Ausbildung eine eigene berufliche Tätigkeit aufbauen. Mehr noch: Mit einer zusätzlichen Ausbildung zur psychologischen Beraterin kann sie einen tertiären Abschluss mit eidg. Diplom erlangen.

Das Berufsbild «Dipl. Biografie-Schreibpädagogin» ist noch relativ neu. Welche beruflichen Möglichkeiten dürfen die ausgebildeten Fachfrauen nach Abschluss ihrer Ausbildung erwarten?

Weil das Berufsfeld neu ist, geht es zunächst auch darum, sich bemerkbar zu machen.

Wir bieten regelmässig Unterstützung in Kursen «PR in eigener Sache» an, damit bereits der Einstieg in den Berufsmarkt professionell gestaltet werden kann.

Derzeit gibt es – im Verhältnis zur Nachfrage – noch viel zu wenig Schreibpädagoginnen, die ihre Dienstleistungen anbieten. Wer sich dazu entschliesst, die Ausbildung zur Biografie-Schreibpädagogin zu absolvieren, investiert also in eine spannende und vielversprechende berufliche Zukunft.

Über Julia Onken und das Frauenseminar Bodensee

Julia Onken, (*1942) ist Psychologin, Therapeutin, Dozentin, Publizistin und Bestsellerautorin. 1987 gründete sie das «Frauenseminar Bodensee FSB», das sie bis heute leitet. Das EDUQUA-zertifizierte FSB war die erste Institution, die von der Schweizerischen Vereinigung für Erwachsenenbildung (SVEB) akkreditiert wurde. Seit über zehn Jahren ist das FSB Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Beratung (SGfB). Jede Frau – unabhängig von Schul-, Berufsabschluss und Alter – kann am FSB einen anerkannten Abschluss erreichen, eine Weiterbildung absolvieren oder sich in ihrer Persönlichkeit entwickeln. Bei Bedarf werden einzelne Lehrgänge durch den Bildungsfond für Frauen subventioniert.

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«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund 300'000 Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG, ein Tochterunternehmen der Galledia Regionalmedien.

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