Michaela Koch
Seilziehen ist mit vielen Klischees behaftet. Die Sportler gelten als «Bauern, die gut gebaut sind». Dass diese Vorurteile nicht stimmen, zeigt die Sportlerin Michaela Koch. Damit dieser Ruf korrigiert wird, haben einige Seilzieher für einmal nicht nur an einem Strang ge-, sondern sogar ausgezogen.
Seilziehen ist für viele Frauen eine eher unbekannte Sportart. Weshalb war es bei dir genau anders?
Einerseits bin ich in Mosnang aufgewachsen, wo der Seilziehsport sehr gut etabliert ist. Seit Jahrzehnten ist der Seilziehclub Mosnang der grösste Seilziehclub der Schweiz. Ich glaube, fast jedes Kind in der Gemeinde Mosnang hat mindestens einmal an einem Schülerturnier teilgenommen – so habe auch ich mir dieses Highlight nie entgehen lassen. Andererseits hatte ich seit meiner Geburt eine Verbindung zum Seilziehsport. Mein Vater, Hanspeter Koch, war 21 Jahre lang aktiver Seilzieher und engagiert sich noch immer ehrenamtlich. Seitdem ich keine Windeln mehr trage, war ich nebst den Seilziehschuhen und dem Ankerpolster ein fester Bestandteil der «Packliste» meines Vaters an seine Wettkämpfe. Schon als Kind war klar, dass ich Seilzieherin werden möchte. Da es jedoch, als ich endlich einmal 14 Jahre alt wurde, kein Frauenteam gab und sich meine Leistungen in der Leichtathletik stetig steigerten, entschied ich mich für letzteres als Leistungssport. Erst mit 20 Jahren wechselte ich zum Seilziehsport.
Um den oftmals schlechten Ruf des Seilziehens zu korrigieren, habt ihr euch vor einiger Zeit ausgezogen und einen freizügigen Kalender herausgebracht.
Die Seilziehclubs in der Schweiz befinden sich stets in kleineren Gemeinden. Wenn ein Seilzieher/-in in die Berufsschule oder irgendwohin geht, und die Frage nach dem Hobby auftaucht, kommt meistens der Kommentar: «Das gibt es als richtige Sportart?». Das «typische Bild» eines/-r Seilziehathlet/-in ist für die Meisten «massiv, gut gebaut und mit genügend Gewicht». Die Idee für den Kalender war, dem grossen Publikum die Wahrheit des Seilziehsports im Bezug auf die körperlichen Fähigkeiten zu zeigen. Ein Jahreskalender mit ästhetischen Bildern war daher eine passende Lösung. Heutzutage liest selten mehr jemand einen langen Text, man braucht überzeugende Bilder – und ohne diese hätte der «Blick» uns nicht als Schlagzeile genommen.
Michaela Koch
Oftmals wollen Frauen jedoch genau DAS verhindern, nur auf das Äussere reduziert zu werden.
Das war sicherlich auch Thematik. Da der Seilziehkalender jedoch zur Hälfte aus Frauenbildern und zur Hälfte aus Männerbildern bestand, herrscht Gleichberechtigung.
Weshalb fasziniert dich Seilziehen so?
Ganz einfach gesagt: Seilziehen ist meine absolute Sportart - taktisch und technisch.
Absolut in dem Sinn der Ganzkörpersportart, in der die koordinativen Fähigkeiten, Technik, Kraft und Ausdauer eine entscheidende Rolle spielen. Faszinierend ist auch, als Einzelperson in einer Mannschaft eine zentrale Rolle zu erhalten. Um im Seilziehen erfolgreich zu sein, braucht es ein eingeschweisstes Team. Jeder muss für den anderen gewillt sein, zu kämpfen. In einem Team aus acht Personen kann nicht immer jede am Tag x alles abliefern. Verständnis und die Unterstützung der anderen ist unabdingbar. Kein Einzelner wird im Seil ausgelassen, man verliert oder gewinnt zusammen. Schlussendlich entscheidet jedoch der Kopf um Sieg oder Niederlage. Es gibt einen Moment, an welchem du denkst, dass du nicht mehr kannst. Der Körper sendet dir ein Signal, obwohl lediglich 85 Prozent deiner Energie aufgebraucht sind. In diesem Moment den Kopf zu überwältigen und die restlichen 15 Prozent abzurufen, oder anders gesagt, «denn inneren Sauhund zu überwinden», dieses Gefühl ist überwältigend. Durch das maximal erlaubte Gewicht pro Team lernt man seinen Körper kennen. Was verträgt mein Körper, wie weit kann ich mein Gewicht reduzieren und trotzdem leistungsfähig zu bleiben? Wo sind meine Grenzen? Zudem ist der Seilziehsport eine Lebensschule. Man lernt mit unterschiedlichen Charakteren als Team zu funktionieren. Was es heisst, nach einem Tief wieder aufzustehen. Die Wichtigkeit eines Einzelnen im Teamsport sowie den Teamspirit, der Bestandteil sein muss, wenn man Erfolg haben will. Die gemeinsamen Erlebnisse sind einzigartig. Da ich als Person ein leistungsorientierter Mensch bin und mit der Grundeinstellung «Entweder richtig – oder gar nicht» durchs Leben gehe, ist der Seilziehsport wie auf mich zugeschnitten. Ich liebe Herausforderungen und setze mich vollumfänglich dafür ein.
Deine Sportkarriere hat dir so manches Highlight beschert. Welcher war dein persönlicher «Wow-Moment»?
Dies war die Europameisterschaft 2019 in Castlebar, Irland. Sie waren sehr emotional. Meine Schwester und meine Mutter sind ohne mein Wissen extra angereist, um live dabei zu sein - ich war zutiefst berührt. Sie verhalfen mir enorm, meine Leistungen an den Tagen x abzuliefern. Die erste Person nach dem Sieg, welche mich angerufen und zuhause im Livestream mitgefiebert hat, war mein Vater. Diesen Doppelsieg mit meinem Team und vor allem auch mit meiner ganzen Familie erleben zu dürfen, war einzigartig.
Womit hattest du am meisten zu kämpfen?
Ich musste einige Rückschläge einstecken. Im Jahr 2015 erlitt ich vor den Europameisterschaften einen Kreuzbandriss. Da ich meinen Körper gerne über die Grenzen gehen lasse, war diese Erfahrung einer meiner schwierigsten. Bereits im März 2016 stand ich wieder am Seil und erhielt kurz darauf die Diagnose, dass ich trotz strenger Befolgung meiner Physiotherapeuten nochmals operiert werden müsse. Nichts hielt mich davon ab, mit einem «Gstältli» am Knie die Saison durchzuziehen und alles daran zu setzen, meine Einschränkungen zu kompensieren – mit dem vierten Rang an der Weltmeisterschaft war dies definitiv keine zufriedenstellende Belohnung. Auch der Wechsel als aktive Athletin von Mosnang nach Gonten und den Verbleib als Vorstandsmitglied in Mosnang, in welchem ich seit elf Jahren tätig sein darf, war und ist bis heute eine herausfordernde Situation.
Ich bin sicherlich mein grösster Kritiker. Was ich mache, will ich perfekt ausführen. Der Doppelsieg in beiden Gewichtsklassen in den Nationalmannschaften der Elite Frauen und der herausfordernden Position 7 im Seil war nach jahrelangem Kampf physisch wie auch psychisch eine grosse Anerkennung.
Wo müssten die Hebel angesetzt werden, damit Seilziehen populärer wird?
Die Schweiz ist seit mehreren Jahren die Nation, die es zu schlagen gilt. An den Europa- und Weltmeisterschaften führt die Schweiz das Medaillenranking an. Der Leistungssport funktioniert und der Erfolg ist präsent. Daher wäre es erforderlich, wenn dem Seilziehsport die Beachtung geschenkt werden würde, welchen ihm auch gebührt. Verglichen mit anderen Sportarten fehlt uns der Breitensport. Mit etwa 350 lizenzierten Athleten/-innen schneiden wir im Vergleich schlecht ab. Die Grundfrage ist deshalb, wie eine Randsportart neue Athletinnen/-en generieren kann. Der Grundstein dazu sind nachhaltig funktionierende Seilziehclubs. Alle Athletinnen/-en, Funktionäre, Clubs und Verband müssen auch nebst dem Seil an einem Strang ziehen. Es werden alle gebraucht und alle haben eine Rolle, um das gemeinsame Ziel erreichen zu können. Was uns sicherlich fehlt, ist die mediale Aufmerksamkeit im nationalen Publikum. Ein Gastauftritt im Sportpanorama, eine Übertragung auf SRF Info von den Weltmeisterschaften 2023 in Sursee oder eine nationale Werbekampagne mit dem Seilziehsport sind wirksame Möglichkeiten, unsere Sportart populärer zu machen. Doch wie man zu diesen Plattformen kommt, beziehungsweise dessen Interesse weckt - auf diese Frage habe ich derzeit noch keine Antwort.
Derzeit ist die Planung zwar sehr schwierig. Gibt es dennoch Ziele, welche du unbedingt erreichen willst?
Ich habe sowohl sportliche wie auch ehrenamtliche Ziele. Sportlich gesehen habe ich am Anfang gesagt, dass ich so lange Seilziehen werde und so erfolgreich sein will, wie es einst mein Vater war. Die Anzahl der Seilziehjahre lasse ich mir jedoch noch offen. Es wird schwierig sein, mit meinem Vater auch im Bereich des Erfolges mitzuhalten. Die Teilnahme an einer oder zwei weiteren Heimweltmeisterschaften und eine Teilnahme an den World Games würde ich mir wünschen. Perfekt wäre natürlich ein Weltmeistertitel – der fehlt mir noch. Ziele mit meinem jungen «Gontner»-Team sind Leistungsfortschritte zu erarbeiten, gemeinsame Erinnerungen zu sammeln und gemeinsam erreichte Ziele zu feiern.
Und auf persönlicher Ebene?
Meine persönlichen Ziele sind, mich dauernd weiterzuentwickeln, Schwächen in Stärken umzuwandeln, an den Turnieren meine Leistungen vollumfänglich abliefern zu können und meinen Teamkolleginnen zu helfen. Mir ist es zudem ein Anliegen, dass ich meine Erfahrungen und meine Fähigkeiten nutzen kann, um junge Athletinnen/-en auf ihrem Weg unterstützen zu können. Aus ehrenamtlicher Sicht würde ich gerne mit dem Seilziehclub Mosnang eine Weltmeisterschaft organisieren. Der Grundstein dazu wurde bereits einmal gelegt. Auch die Förderung des Ansehens des Seilziehsport und der daraus abzuleitenden Steigerung der Anzahl gelösten Lizenzen ist mir ein Anliegen.
Michaela Koch
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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