Die Liste degenerativer Zivilisationserkrankungen ist um ein Kapitel reicher: «Parent Shaming» heisst der neuste Trend, der das weltweite Netz in Aufruhr versetzt. So jedenfalls berichtete es die Pendlerzeitung «20 Minuten» am Freitag.
Junge Erwachsene, die sich hierzulande Kinder wünschen, geraten offenbar zunehmend unter moralisch aufgeladenen Druck von Gleichaltrigen, welche es für unverantwortlich halten, Kinder in eine angeblich von Katastrophen und Klimawandel heimgesuchte Welt zu gebären. Es sei nicht vertretbar, ein Kind in eine Welt zu setzen ohne sichere Zukunft.
Nicht dass es ein völlig neues Thema wäre. Jede Nachkriegsgeneration hat es in zeittypischen Variationen durchgespielt: War zuerst die Existenz der Atombombe der Grund dafür, dass man keine Kinder haben soll, so waren es später das Waldsterben und heute der Klimawandel. Der befürchtete Atomkrieg, wir wissen es, fand nie statt - das Waldsterben ebensowenig. (Was aber den Aufstieg der Grünen Partei nicht verhinderte.)
Zum Glück für uns haben unsere Vorfahren nicht so gedacht: Über Jahrtausende waren die individuellen Lebensumstände so prekär, dass die Menschheit noch nicht einmal dazu kam, irgendwelche kollektiven Gefahren zu kontemplieren. Und dennoch machten sie Kinder. Kinder, welche zu achzig Prozent bereits vor Erreichen des Erwachsenenalters starben.
Heute hingegen grassiert bereits die Angst vor dem Ende der Welt, bloss weil die Möglichkeit besteht, dass man gegen Ende der winterlichen Heizperiode die Raumtemperatur um vielleicht zwei Grad absenken muss: Existentielle Probleme sind Luxusproblemen gewichen.
Apropos Klimawandel: Da hört man doch immer wieder, wir im entwickelten Norden seien verantwortlich dafür, während vor allem Menschen im globalen Süden darunter leiden. Also müssten ja eigentlich die Menschen im Süden Angst vor der Zukunft haben und mit dem Kinderkriegen aufhören - davon ist aber bislang noch nichts bekannt.
Wer die dortigen Verhältnisse kennt, wer weiss in welch finanziell ungesicherte Zukunft hinein Kinder dort oftmals geboren werden, kann sich nur fragen, warum das vermeintliche Fehlen einer gesicherten Zukunft ausgerechnet im relativ planungssicheren Westen ein Problem sein soll.
Etwas muss man Personen, welche auf diese Art «Eltern-Beschämung» betreiben, immerhin zugestehen: Wer eine derart nervöse, überreizte Grundkonstitution hat, ist für das Kinderhaben selber wohl tatsächlich weniger geeignet.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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