Wenn die NZZ mit dümmlichen Provokationen nach Aufmerksamkeit schielt, geht es meistens schief. Wie in jenem Text eines Inlandredaktors über den verlorenen Glauben der Schweizer. Ist halt auch nur eine Zeitung, die NZZ – na und?
Es war schon während meiner Zeit auf der NZZ-Redaktion so, und hat sich seither nicht geändert: Hin und wieder versucht einer der Redaktoren des ehrwürdigen Blattes in einem Anfall von Aufmüpfigkeit, etwas gegen den Ruf seiner Zeitung als «alter Tante» zu unternehmen. Dann wird, meistens ganz unvermutet, eine Provokation, ein frecher Titel gewagt. Was selten gelingt und von dem zumindest stilistisch an Zurückhaltung gewohnten NZZ-Publikum auch selten goutiert wird. Weil die NZZ ja keine Zeitung ist wie jede andere. Weil an der Falkenstrasse wenig Erfahrung mit derlei Extravaganzen herrscht, können solche Formulierungen ins Auge gehen – mit grossen Buchstaben und frivolen Wortspielen haben die Kollegen im Ringier-Haus gleich um die Ecke nun mal eindeutig über mehr Erfahrung.
Kurz vor Weihnachten, wenn jeweils sogar den Lesern des Wirtschaftsteils der Sinn nach Besinnlichem steht, sind die Chancen für eine solche Provokation besonders gross. Diesmal hat die Inlandredaktion die Gelegenheit beim Schopf gepackt. «Die Schweiz verliert ihren Glauben – na und?» betitelte Inlandredaktor Simon Hehli seine vorweihnachtlichen Betrachtungen ebenso herablassend wie salopp. Müssen wir demnächst Titel erwarten wie «Heimat ist für Schweizer kein Wert mehr – na und?» (zum 1. August). Oder «Marktwirtschaft am Ende – na und?».
Das war’s dann allerdings auch schon mit der provokativen Vogelperspektive. Was folgte, ging eigentlich nicht über den Tellerrand eines durchschnittlichen Inlandredaktors hinaus, der sich heutzutage mit kirchlichen und anderen Glaubensfragen nicht mehr so gut auskennt. Die aber eigentlich auch in einem politischen Ressort – zumindest bei der NZZ – nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollten, muss man doch auch hier hin und wieder über die Beziehung zwischen Kirche und Staat nachdenken. Etwa bei der Frage, warum sich eine Partei noch christlich nennen soll. Oder bei der Erwähnung Gottes in der Bundes- oder in Kantonsverfassungen wie soeben bei der Ausserrhoder Verfassungsrevision. Da reicht es vielleicht doch nicht ganz, allein mit Kirchenaustritten zu argumentieren.
Für die NZZ alles kein Problem: Es gebe ja, so Hehli, «keine Anzeichen dafür, dass die westliche Gesellschaft in die Dekadenz schlittert, nur weil sie gottlos ist.» Schliesslich existierten die jüdisch-christlichen Werte in unserem Denken weiter. Und das wird, so meint Hehli optimistisch, auch so bleiben. Na, dann ist ja alles gut.
Aber vielleicht müsste man auf der NZZ-Inlandredaktion wieder einmal das grundlegende Werk des deutschen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde mit dem Titel «Staat, Gesellschaft, Freiheit» zur Hand nehmen. Oder sich doch dessen zentralen Satz vor Augen halten, der da heisst: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Darüber könnte man wieder einmal räsonnieren oder, wie es in der NZZ jeweils hiess: «raisonnieren».
Zwar geht die Religion hierzulande bachab. Eine Gefahr sieht der NZZ-Artikel aber nicht darin, sondern im religiösen Fanatismus, den er zwar diplomatisch vorwiegend im «politischen, zuweilen gewaltsamen Islam» verortet. Die eigentliche Gefahr scheint für Leit-Artikler Hehli aber hauptsächlich im «Rückfall in eine Kreuzzugsmentalität» jener Unverbesserlichen zu bestehen, die noch von einem «christlichen Abendland» träumen.
Ob nicht die Kreuzzugsmentalität, sondern doch eher der Islamismus das Problem ist, müsste er wohl einmal mit einem der christlichen Armenier diskutieren, der vor kurzem aus Berg-Karabach vertrieben wurde. Oder mit einem der über 50000 französischen Juden, die seit dem Jahr 2000 nach Israel ausgewandert sind, weil sie sich vor den unaufhörlichen muslimischen Attacken in ihrem ehemaligen Heimatland nicht mehr sicher fühlten. Nein, eine Kreuzzugsmentalität hätten sie alle nicht gebraucht. Aber etwas mehr europäische Solidarität aufgrund der gemeinsamen christlich-jüdischen Werte, welche die NZZ in aller Zukunft für unverrückbar hält.
Aber vielleicht erwarte ich von der NZZ einfach zu viel. Sie ist ja schliesslich auch nur eine Zeitung – na und?
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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