Nach zwei Jahren Funkstille meldet sich der ehemalige IHK-Direktor Kurt Weigelt mit dem Buch «Wer sich nicht bewegt, wird bewegt» zurück. Auch die Leserschaft von «Die Ostschweiz» kommt künftig in den Genuss seiner Thesen. Im Interview erklärt Weigelt, wieso wir in einer Systemkrise stecken.
Kurt Weigelt, nach mehr als zwei Jahren Funkstille melden Sie sich mit einem Text zur Politik im Spannungsfeld von Postsozialismus und digitaler Gesellschaft zurück. Haben Sie Entzugserscheinungen?
Nein, überhaupt nicht. Über mehr als dreissig Jahre engagierte und exponierte ich mich in der Ostschweizer Wirtschaftspolitik. Und dies mit grosser Begeisterung. Für mich war aber immer klar, dass ich mich mit dem Rücktritt als IHK-Direktor aus dem tagespolitischen Nahkampf verabschieden werde. Die neue zeitliche Unabhängigkeit nutzte ich, um mich noch vermehrt mit den grundsätzlichen Fragen des gesellschaftlichen Wandels auseinanderzusetzen.
Und dies mit welchem Ergebnis?
Von der Analyse her ist vieles in meinen Text eingeflossen, das mich bereits während meiner IHK-Zeit beschäftigte. Nun ging es darum, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse das Ganze besser einordnen zu können. In der Zwischenzeit ist aus mir wohl so etwas wie Hobby-Soziologe geworden.
Was heisst dies konkret?
Nach meiner Überzeugung sind die weltweiten Unruhen, die Polarisierung, der Populismus, die Unzufriedenheit quer durch alle Bevölkerungsschichten, Ausdruck einer fundamentalen Systemkrise. Wir scheitern mit dem Versuch, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts mit den Ideen des 18. Jahrhunderts, den Institutionen des 19. Jahrhunderts und den Methoden des 20. Jahrhunderts zu bewältigen.
In diesem Zusammenhang sprechen Sie von Postsozialismus. Was meinen Sie damit?
Subventionen, Sozialleistungen, Sicherheitsversprechen und wirtschaftliche Privilegien sind der Kit, der heute die Gemeinwesen zusammenhält. Die politischen Herausforderungen werden nicht gelöst, sondern ausfinanziert. Quer durch alle Bevölkerungsschichten formuliert man Ansprüche an die öffentliche Hand. In bester sozialistischer Tradition erwartet man das private Glück vom Staat, dem Kollektiv, sieht die Gemeinwesen in der Verantwortung. Dies allerdings ohne jeden ideologischen Ballast. Der Postsozialismus des 21. Jahrhunderts definiert sich nicht über Wertvorstellungen, sondern über den Glauben an die immerwährende Zahlungsfähigkeit von Staaten.
Nun hat aber gerade die Corona-Krise bewiesen, dass dieses Rezept wunderbar funktioniert.
Für mich ist dies alles ein hochriskantes Spiel. Solange der Kuchen wächst, gibt es mehr für alle, wenn auch für die einen noch mehr als für die anderen. Wenn der Kuchen nicht mehr wächst, ändern sich die Spielregeln: Was die einen mehr bekommen, erhalten die anderen weniger. Konflikte sind vorprogrammiert. Der Postsozialismus ist ein Pulverfass.
Was wäre aus Ihrer Sicht die Lösung?
Wer Zukunft will, hat zu akzeptieren, dass diese unberechenbar ist. Bewährtes muss in Frage gestellt, Unbekanntes riskiert werden. Es gibt keine kopierbaren Vorlagen, keine Erfolgsgarantien für einen erfolgreichen Weg in die Zukunft. Entscheidend ist, dass man sich auf den Weg macht. Wer sich nicht bewegt, wird bewegt. So der Titel meines Textes.
Es braucht aber wohl eine Vorstellung, in welche Richtung man sich bewegen soll. Sonst dreht man sich im Kreis.
Exakt. Meine These ist, dass sich zukunftsorientierte Institutionen vom Grundsatz der Einheitlichkeit in Richtung Pluralität und von der perfekten Organisation in Richtung horizontaler Netzwerke bewegen. Die Komplexität einer durch die Digitalisierung herausgeforderten Gesellschaft lässt sich nur mit der Denkweise und den Handlungsmustern digitaler Systeme bewältigen. Die Kräfte der Digitalisierung bestimmen die Wirklichkeit. Dieses Zusammenspiel, der digitale Dynamismus, verändert die Welt und durchdringt unsere politischen Institutionen, unsere Unternehmen, Vereine und Verbände.
Das tönt nun aber sehr theoretisch.
Zugegeben. Ich hoffe aber, dass mein Text gut verständlich ist. Den Lesegewohnheiten von heute entsprechend beschränkte ich mich auf 24 Fragen und knapp formulierte Antworten. Nun geht es darum, die einzelnen Aspekte mit Blick auf den Alltag zu konkretisieren. Gerne werde ich diese Beiträge in «Die Ostschweiz» veröffentlichen.
Wie kommt man an Ihren Text?
Meinen Überzeugungen entsprechend habe ich diesen auf meiner Webseite www.kurtweigelt.ch zur freien Verfügung ins Internet gestellt. Wer ein schön gestaltetes Taschenbuch vorzieht, kann dieses über meine Webseite bestellen.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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