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Waldmeyer und die Russen

Die russische Durchmarsch-Achse in die Schweiz

Waldmeyer fragt sich manchmal, ob er nicht etwas paranoid sei. Er überlegt oft, was er tun würde, wenn er Krebs kriegte, sein Handy verlöre, Charlotte ihn verliesse oder es zu einem Blackout kommen würde. Oder der Russe doch noch plötzlich am Rhein stehen würde.

Roland V. Weber am 22. April 2022

Krieg in Europa? Die jüngsten Entwicklungen lassen ein bisher unvorstellbares Szenario plötzlich als Tatsache erscheinen. Waldmeyer überlegte, was er tun würde, wenn sich das ganze Drama noch ausweiten würde. Aber dazu später.

Vorab malte er sich aus, wie ein russisches Drehbuch für einen weiteren Einmarsch Richtung Westen aussehen könnte. Waldmeyer studierte Google Maps: Unter der Annahme, dass die Ukraine doch noch komplett eingenommen würde, stünde Putin bereits an der ungarischen Grenze. Da Viktor Orban ein grosser Putin-Verehrer ist, würde er die Russen vielleicht willkommen heissen. Ungarn würde also fallen. Weiter westlich dann liegt bereits Österreich – aber dieses Rumpfimperium einstiger Grösse und Grandezza verfügt heute nur noch über eine kümmerliche Armee. Die Österreicher sind auch nicht in der Nato; diese würde also nicht eingreifen. Putin würde also auch gleich durchmarschieren – falls das überhaupt nötig wäre. Denn er könnte alternativ direkt von Lwiw aus in der Ukraine (dem schönen alten Lemberg Österreich-Ungarns) Hyperschall-Raketen über 1500 km abschiessen, beispielsweise bis nach Meisterschwanden.

Die mit hoher Wahrscheinlichkeit einfachste und logischste Einmarschachse der Russen ist also klar: Ukraine - Ungarn - Österreich - Schweiz. Damit stünde der wahnsinnig gewordene Kremlherr im Herzen Europas, an den Grenzen zu Deutschland, Frankreich und Italien. Und Liechtenstein. Aber vor allem stünde er nun erst mal im Vorarlberg. Ein Szenario, das Waldmeyer bereits vor bald 40 Jahren in der Rekrutenschule als Übungsanlage vorgesetzt bekam: „Feind Rot überquert den Rhein“. Die Welt hat sich inzwischen also, kriegstechnologisch, doch nicht weiterentwickelt?

Bis zu diesem Zeitpunkt, dem abgeschlossenen Aufmarsch nach Vorarlberg, könnten wir in der Tat gar nichts tun. Das verbietet uns die Neutralität. Oder sollten wir schon vorher, vielleicht heute schon, den Ukrainern helfen, damit die Russen nicht näher an uns ranrücken? Die Deutschen z.B. hatten sich ja offiziell mit der Ukraine solidarisch erklärt und schon frühzeitig 5‘000 Helme geschickt. So versprechen auch täglich schwere Waffen, vielleicht liefern sie auch noch welche.

Aber zurück zu Waldmeyers Szenario: Was ist, wenn Putin tatsächlich im Vorarlberg lauert, wie die Katze vor dem Mauseloch und nur darauf wartet, dass die Schweiz etwas tut? „Ruki vierch!“ hatte Waldmeyer einst bei der Armee gelernt (ja, so heisst „Hände hoch!“ auf russisch). Eine Kenntnis, die in einem solchen Fall indessen kaum weiterhelfen würde.

Würde Frau Amherd in dieser doch etwas brenzligen Situation unsere alten Flieger volltanken lassen? Gäbe es eine Mobilmachung? Die würde allerdings zu spät erfolgen, denn der Bundesrat würde zuerst eine 14-tägige Vernehmlassung bei den Kantonen durchführen. Während dieser Reflexionsphase hätten die Russen allerdings mittels Cyberangriffen schon längst unsere Stromversorgung lahmgelegt. Der Bundesrat müsste also eine Doppelkrise bewältigen: Frau Amherd müsste sich um die Flieger kümmern, und Frau Sommaruga, unsere ausgebildete Konzertpianistin, müsste den Blackout managen. Unsere neuen Soldaten wären, bedauerlicherweise, zudem nur bedingt kampftauglich, denn einen Teil der Rekrutenschule hatten sie, wie wir wissen, im Homeoffice absolviert. Und die Nato dürfte uns auch nicht helfen, da die Schweiz a) nicht in der Nato ist und b) wir eh neutral bleiben wollen. Im zweiten Weltkrieg hatte der Trick mit der Neutralität doch wunderbar funktioniert.

Doch Waldmeyer wäre nicht Waldmeyer, wenn er für diesen Fall (Russe in Vorarlberg) nicht einen Plan B hätte. Es sollte ein persönlicher Plan B sein. Angesichts einer gewissen Vorlaufzeit (die Anfahrtstrecke durch Ungarn und Österreich darf trotz allem nicht unterschätzt werden), könnte Waldmeyer in Ruhe seinen Fluchtplan ausarbeiten. Er würde mit dem Auto und ein paar Benzinkanistern nämlich direkt nach Rotterdam fahren; dort würde dann die zeitnahe Verschiffung nach Kanada erfolgen. Ja, genau Kanada, weil Kanada erstens genügend weit weg liegt und zweitens, weil Kanada trotzdem etwas europäisch ist. Zumindest europäischer als die USA. Zudem leben schon 40‘000 Auslandschweizer in Kanada. Und pro memoria: Erst 1957 hatte der Schweizer Bundesrat konkrete Notfallpläne und Staatsverträge entwickelt, in einem Krisenfall den Sitz von Schweizer Firmen kurzerhand nach Kanada zu verlegen.

Charlotte meinte zu dem Vorarlberg-Szenario nur: „Wir sollten es gar nicht so weit kommen lassen. Wir sollten besser schon heute den Ukrainern richtig helfen. Nicht nur hier bei uns, mit den Flüchtlingen, sondern auch vor Ort!“

Also doch. Charlotte hatte recht, reflektierte Waldmeyer. Die Deutschen gingen wirklich schon früh mit einem guten Beispiel voran, vor allem mit diesen Helmen. Die Schweiz ist allerdings neutral, wir dürfen nichts tun. Wir könnten jedoch den Ukrainern zumindest etwas Neutrales schicken, nicht nur Decken und Medikamente, sondern echte Verteidigungshilfe. Allerdings liegen da nicht einmal „Dual-Use-Güter“ drin, z.B. Pilatus Porter oder Notstrom-Generatoren (zumal letztere Sommaruga selber brauchen würde). Dual-Use-Güter sind bekanntlich Geräte und Produkte, die einerseits zivil verwendet, andererseits auch militärisch „missbraucht“ werden können. So wurde der kürzliche Vorschlag, Schutzwesten zu schicken, kurzerhand abgelehnt, denn diese könnten auch einen ukrainischen Soldaten schützen. Es bleiben somit nur wenige Hilfsmaterialien übrig, welche unseren Neutralitätsansprüchen gerecht würden. Selbst ein altes Zelt könnte missbraucht werden, weil hier nicht nur Flüchtlinge, sondern auch ukrainische Kampftruppen reinhocken könnten. Auch ein ebenso altes Funkgerät läge nicht drin, da damit die Übermittlung von Guerillaplänen erfolgen könnte.

„Charlotte, wir sollten vielleicht 100’000 Gamellen schicken. Die haben wir eh bis heute noch nie gebraucht!“

Charlotte antwortete nicht. Sie schaute gebannt auf ihren PC. Waldmeyer blickte ihr über die Schulter und war entsetzt: Kanada!

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Autor/in
Roland V. Weber

Roland V. Weber (*1957) verbrachte einige Zeit seines Lebens mit ausgedehnten Reisen. Aufgewachsen in der Schweiz, studierte er Betriebswirtschaft in St. Gallen und bekleidete erst verschiedene Führungspositionen, bevor er unabhängiger Unternehmensberater und Unternehmer wurde. Er lebt in den Emiraten, in Spanien und in der Schweiz. Seit Jahren beobachtet er alle Länder der Welt, deren Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Er bezeichnet sich selbst als «sesshafter digitaler Nomade», als News Junkie, Rankaholic und als Hobby-Profiler.

Roland Weber schreibt übrigens nur, was er auch gerne selbst lesen würde – insbesondere, wenn Sachverhalte messerscharf zerlegt und sarkastisch oder ironisch auf den Punkt gebracht werden.

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