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Kaum gerechtfertigte Angstmacherei

Die Volksinitiative «Für Freiheit und Unversehrtheit» wirft grundsätzliche ethische Fragen auf — daran haben viele Politiker keine Freude

Die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» ist nicht bloss ein präventiver Schutz gegen eine allfällige Impfpflicht. Sondern es geht um das grundsätzliche Verhältnis von Individuum und Gesellschaft.

Thomas Baumann am 03. Juni 2024

Artikel 10 der Bundesverfassung definiert die «persönliche Freiheit». Diese ist zuerst einmal die Freiheit des eigenen Körpers. Nimmt man einem Menschen alles weg, dann bleibt ihm zuletzt nur noch: sein Körper. Die nackte Freiheit.

Die Unversehrtheit des Körpers ist daher ein schützenswertes Gut. Der unversehrte Körper ist ein lebender Körper — und somit ist auch das Leben geschützt. Explizit wird in diesem Zusammenhang in der Verfassung auch die Todesstrafe untersagt.

Anstatt in Artikel 10, Absatz 1, hätte man die Todesstrafe allerdings auch irgendwo in den Artikeln 29 bis 32 regeln können, welche sich mit Fragen der Rechtsprechung und Bestrafung beschäftigen. Diese Bemerkung darum, weil den Initianten der Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» nicht selten vorgeworfen wird, am falschen Verfassungsartikel ‹anzudocken›.

Teilweise fragwürdige Systematik

Was für die Todesstrafe gilt, gilt auch für die Folter: Auch das Folterverbot hätte man irgendwo in den Artikeln 29 bis 32 regeln können, nahm es aber dennoch als Absatz 3 in Artikel 10 auf. Das Verbot der Todesstrafe und das Folterverbot explizit in Artikel 10 aufzunehmen und nicht irgendwo bei den Artikeln, welche sich mit der Bestrafung beschäftigen, stärkt möglicherweise deren Gewicht.

Weil der Mensch nicht bloss ein körperliches, sondern auch ein geistiges Wesen ist, ist auch seine geistige Unversehrtheit geschützt. Geistige Unversehrtheit ist allerdings schwieriger zu definieren als körperliche Unversehrtheit. Kann man daraus zum Beispiel ein Propagandaverbot der Regierung ableiten? Die meisten sonstigen Eingriffe in die geistige Unversehrtheit gehen ja mit einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit einher.

Der freie Mensch ist zumeist ein tätiger, ein handelnder Mensch. Dennoch ist die Freiheit des Handelns in der Verfassung nicht explizit geschützt. Dafür wird etwas überraschend noch die «Bewegungsfreiheit» in Verfassungsartikel 10 integriert. Bewegungsfreiheit ist ihrer Natur nach nur ein Teilbereich der Freiheit des Handelns. Ausser sich zu bewegen, kann der Mensch noch auf viele andere Arten handeln.

Art. 10 BV gilt nicht absolut — schon bisher

Offensichtlich ist darüber hinaus: Von allen Grundrechten erfährt gerade die Bewegungsfreiheit mithin die stärksten Einschränkungen. Als Stichworte mögen hier erst einmal genügen: Freiheitsentzug und Militär.

Doch nur schon, wenn der Mensch ganz simpel sein Haus verlässt, wird er augenblicklich mit Einschränkungen seiner Bewegungsfreiheit konfrontiert: Als Fussgänger darf er bloss das Trottoir benutzen — Betreten der Fahrbahn ist hingegen untersagt. Mit der Bewegungsfreiheit ist es nicht gerade weit her und man kann sich fragen, warum ausgerechnet ein derart oft eingeschränktes Recht es dennoch in die Verfassung geschafft hat. Oder vielleicht gerade deswegen.

Man sieht: Wie jedes Werk von Menschenhand ist auch die schweizerische Bundesverfassung in ihrer Systematik nicht perfekt. Aber bekanntlich ist jeder Buchstabe tot, sofern der Wille zur Umsetzung fehlt. Also kommt es letztlich viel mehr auf den Willen an, sich an die in der Verfassung definierten Grundrechte zu halten, als auf den genauen Wortlaut.

Der zweite Absatz von Artikel 10 der Bundesverfassung lautet: «Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.»

Ziele der Initiative

Gleich danach möchten die Verfechter der Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» einen neuen Passus, Absatz 2bis, einfügen: «Eingriffe in die körperliche und geistige Unversehrtheit einer Person bedürfen deren Zustimmung. Die betroffene Person darf aufgrund der Verweigerung der Zustimmung weder bestraft werden, noch dürften ihr soziale oder berufliche Nachteile erwachsen.»

Zwei relativ kurze, leicht verständliche Sätze. Doch was ist die Motivation der Initianten? In diesem Zusammenhang kann man ihnen eine gewisse Kritik nicht ersparen: Nannten sie ihre Initiative zuerst «Stopp-Impfpflicht-Initiative», so segelt diese jetzt unter dem Banner «Freiheits-Initiative».

Schockierte man das Publikum erst mit einer Grafik, wo ein Menschen mit einer überdimensionierten Spritze bedroht wird, wird dem Individuum nun ein Chip eingepflanzt.

Tatsächlich geht die Initiative jedoch über diese Bereiche hinaus und setzt das Recht auf die individuelle körperliche Integrität ziemlich absolut. Selbst wenn man — hypothetisch — mit der Verletzung der körperlichen Integrität eines Individuums die körperliche Integrität einer Vielzahl anderer Menschen retten könnte: Das individuelle Selbstbestimmungsrecht geht auch in diesem Fall vor, es gibt keine Abwägung.

Der Teufel liegt im Detail

Wie bei vielem anderen liegt auch bei dieser Initiative der Teufel im Detail. Die Problematik ist nicht so sehr, dass Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Zustimmung der Betroffenen bedürfen. Das ist schon heute in den allermeisten Bereichen der Fall, denn körperliche Unversehrtheit bedeutet ja nachgerade die Freiheit von nicht autorisierten Eingriffen.

Vielleicht mit Ausnahme der Impfungen von Kindern, welche — da Kinder — dazu nichts zu sagen haben. Wobei sie ja auch bei sonstigen medizinischen Eingriffen nichts — oder wenig — zu sagen haben, was kaum jemanden zu stören scheint. Umgekehrt wird aber auch nicht die körperliche Integrität von Eltern verletzt, wenn deren Kinder gegen den Willen der Eltern geimpft werden.

Der vom Bundesgericht im «Fall Sissach» gefällte Entscheid taugt somit herzlich wenig als Beispiel für einen «Impfzwang». Ausser die Initiativ-Befürworter vermögen aufzuzeigen, dass auch die Kinder, sobald sie mündig und urteilsfähig sind, die Impfung abgelehnt hätten. Behördlicher Zwang oder elterlicher Zwang dürften für die Kinder ziemlich einerlei sein.

Widerspruch bei der Zustimmungserfordernis

In einem anderen Bereich jedoch, welcher interessanterweise selbst von den Initiativ-Gegnern nie erwähnt wird, würde genau die Zustimmungserfordernis zu einem Widerspruch führen: im Fall der Organtransplantationen. Würde die Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» angenommen, wäre die Widerspruchslösung im Transplantationsgesetz eigentlich verfassungswidrig — jedoch ebenso vom Volk angenommen wie die generelle Zustimmungserfordernis in der Volksinitiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit».

Ansonsten ist es jedoch weniger die Zustimmungserfordernis an sich, als andere Aspekte der neuen Verfassungsbestimmung, welche gewisse, heute erlaubte Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit in Frage stellen.

Die populistische Behauptung der Initiativ-Gegner hingegen, dass die Polizei vor einer Verhaftung eine Person neu um Zustimmung für ihre Verhaftung bitten müsse, ist natürlich blanker Unsinn. Schon jetzt ist ja in Art. 10 Abs. 2 BV die «Bewegungsfreiheit» festgeschrieben. Diese ist aber kein Hinderungsgrund für Verhaftungen, obwohl diese bekanntlich explizit zum Zweck haben, genau diese Bewegungsfreiheit einzuschränken.

Bedeutsamer ist in diesem Zusammenhang, dass gemäss der neuen Verfassungsbestimmung nicht bestraft werden darf, wer die Zustimmung zu seiner Verhaftung verweigert. Sich einer Verhaftung entziehen zu wollen oder sich ihr zu widersetzen, könnte im Licht der neuen Verfassungsbestimmungen nicht mehr strafbar sein.

Bestrafungsverbot ist schwerwiegender

Das Bestrafungsverbot würde wohl auch andere Bestimmungen im bisherigen Recht aushebeln. Wer als Lenker eines Fahrzeugs eine Blutprobe verweigert, wird heutzutage ebenfalls bestraft. Im Falle eines Berufschauffeurs würde dies gegebenenfalls einem (temporären) Verbot der Berufsausübung gleichkommen.

Grund dafür im heutigen Recht: Wer eine Blutprobe vereitelt, soll davon nicht profitieren, soll also nicht besser wegkommen, als jemand, der die Blutprobe abgibt und danach gemäss dem Strassenverkehrsgesetz bestraft wird. Diese Regelung wäre dann wohl verfassungswidrig und müsste angepasst werden.

In dem Fall, welcher der Initiative quasi zugrunde liegt, dass nicht geimpfte Personen vom Sozialleben ausgeschlossen werden, also beispielsweise weder Fitnessstudios noch Restaurants besuchen dürfen, würde die Initiative ihre Ziele mit der gewählten Formulierung tatsächlich erreichen. Wer jedoch unbesehen davon ausgeht, dass deswegen Geimpfte fröhlich neben nicht Geimpften im Restaurant sitzen, hat die Rechnung vielleicht ebenfalls ohne den obersten Wirt in Bern gemacht.

Nachteile für nicht geimpfte Personen könnten in diesem Fall nämlich nicht nur dadurch ausgeschlossen werden, dass jedermann, egal ob geimpft oder nicht, ein Restaurant besuchen darf — sondern auch dadurch, dass überhaupt niemand mehr ein Restaurant besuchen darf. Ob dadurch viel gewonnen ist, bleibe dahingestellt. Die Neidgenossen auf jeden Fall wären zufrieden.

Schutz gegen übergriffige Politiker

Trotz aller Unzulänglichkeiten, welche die Initiative «Für Freiheit und körperliche Unversehrtheit» haben mag, machen es einem die Gegner der Initiative auch nicht gerade leicht, ihnen zu folgen.

So tönte Ständerat Daniel Jositsch in der «Arena» der Schweizer Fernsehens mit reichlich viel Selbstgerechtigkeit: «Das gehört einfach zu einer Gesellschaft, dass es Regeln gibt und dass man sich dort auch ein bisschen einfügen muss.» Zu diesem Tonfall kann man nur sagen: Dumm und überheblich. Wer die Regeln macht, hat natürlich gut reden. Professor Jositsch scheint die Gesellschaft mit einem Hörsaal zu verwechseln.

Beat Flach (Nationalrat GLP/AG) wiederum meinte in derselben Sendung: «Die Freiheit des Einzelnen hat natürlich Grenzen, dort, wo sie die Freiheit der Gesellschaft, von Anderen, tangiert. Es ist heute schon so, dass man gewisse Einschränkungen aufgrund der Sorge, der Fürsorge für die Gesellschaft — mein Miteinander («mis Mitenand») — einschränken kann.»

Wörtlich zitiert, daher geht der letzte Satz grammatikalisch nicht ganz auf. Man sieht: Viel «Gesellschaft» ganz allgemein, «Freiheit der Gesellschaft», «Fürsorge für die Gesellschaft», «mis Mitenand» — doch wo bleibt eigentlich das Individuum?

Bei einer derartigen verbalen Übergriffigkeit von Politikern gegenüber dem Individuum braucht man sich über eine Gegenreaktionen nicht zu wundern. Je mehr sich Politiker als ‹Gesellschaftsingenieure› gebärden und dabei die einzelnen Menschen aus den Augen verlieren, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass diese irgendwann eine absolute Grenze ziehen: bei der körperlichen Autonomie des Individuums.

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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