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Neue Töne in den Medien

«Die Welt» dreht langsam – die Welt noch nicht

In der Schweiz hat er zaghaft begonnen, in Deutschland nimmt er rasanter Fahrt auf: Ein neuer Kurs in der Berichterstattung zu Corona. Musste man früher kritische Artikel zu den Massnahmen mit der Lupe suchen, sind sie heute gelegentlich in der Überzahl.

Stefan Millius am 06. August 2021

«Die Welt» nennt sich selbstbewusst «eine der führenden Zeitungen Europas». Roger Köppel war einst für zweieinhalb Jahre dort Chefredaktor. Dieses Intermezzo darf man nicht falsch auslegen. «Die Welt» ist keineswegs eine deutsche «Weltwoche». Sie überrascht hin und wieder, aber nicht in der Zeit, seit Corona herrscht. In dieser Phase gehörte sie zum behörden- und regierungstreuen Orchester, nicht als lautestes Instrument, aber unbeirrbar im Takt mit allen grossen Zeitungen.

Die Onlineausgabe von Freitag, 6. August, lässt einen deshalb staunend zurück. Die fünf zuoberst platzierten Beiträge drehen sich alle um das Coronavirus beziehungsweise die Massnahmen dagegen. Doch die Tonalität hat gewechselt. Es kommen Juristen zu Wort, die sich gegen eine Verlängerung der aktuellen Coronapolitik aussprechen und klarmachen, dass diese juristisch anfechtbar wäre. Eine ungeimpfte Autorin schildert aus persönlicher Warte, wie sie zum Unmenschen gemacht wird. Karl Lauterbach bekommt sein Fett weg mit der Aussage, dass er nach wie vor der gefragteste «Experte» ist, obschon er eine Fehlprognose nach der anderen liefert. Ein weiterer Text widmet sich eher sachlich-unkritisch dem Angebot der Impfung in Supermärkten, parallel dazu wird in einem Video aber eine mögliche «Impfpflicht durch die Hintertür» thematisiert.

Es ist eine Onlineausgabe, die noch vor wenigen Wochen völlig undenkbar gewesen wäre. Vor allem in der Ballung. Ein einzelnes Strohfeuer in der Form eines kritischen Gastbeitrags: Das haben sich deutsche Zeitungen immer mal wieder geleistet. Es wirkte aber stets so, als sähe sich die Redaktion genötigt, mal kurz Ausgewogenheit zu beweisen, um diese danach umgehend wieder zu verabschieden. Ein journalistisches Feigenblatt.

«Die Welt» erscheint im Axel Springer Verlag, der auch die Boulevardzeitung «Bild» herausgibt. Dort ist bereits seit längerem ein massnahmenkritischer Kurs zu beobachten. Der Chefredaktor persönlich kommentierte unlängst, es könne bei der Bewilligung von Demonstrationen oder Kundgebungen nicht mit verschiedenen Ellen gemessen werden. Gelten müssten die rechtsstaatlichen Regeln und keine politischen Vorlieben. Angesprochen wurde damit die Tatsache, dass Massnahmenkritiker durch Verbote aus dem öffentlichen Raum gekegelt werden, während am «Christopher Street Day» zehntausende unbehelligt durch die Strassen ziehen konnten. Rational erklären liess sich das nicht.

Vielleicht liegt es also am Verlag, der die beiden Zeitungen verantwortet. Entscheidender ist, dass «Bild» und «Die Welt» beides überregionale Zeitungen sind und damit in der Lage, viele Leute zu erreichen und das Tempo auch für andere Medien vorzugeben. Die Kritik an der Coronapolitik tritt damit aus dem Schatten kleiner Portale oder von Einzelinitiativen wie die des Journalisten Boris Reitschuster, der allerdings mit seinem Blog inzwischen auch bereits Millionen von Menschen erreicht.

Der neue Kurs einzelner Medien hat nichts damit zu tun, dass sich die Lage geändert hätte. Die Redaktionen vollziehen keineswegs eine Änderung der Marschrichtung in der Politik nach. Sie legen vor. Denn die Politik ist, in Deutschland wie bei uns, nach wie vor im Panikmodus. Das griechische Alphabet wird durchgekaut, um neue Mutationen einzuführen, bereits werden wir gewarnt, im Herbst könnte es wieder dramatisch werden – und die Massnahmen könnten wieder aufflammen. Mit anderen Worten: Die Kritik an der Politik hätte mit den heutigen Argumenten auch schon vor drei oder sechs oder zwölf Monaten aufkommen können – oder sollen. Man ist versucht zu sagen: Besser spät als nie.

In der Schweiz sind ähnliche Signale zu vernehmen, wenn auch abgeschwächt. Der «Tagesanzeiger» gibt einer Ethikerin viel Raum, die durchaus kritisch mit den Geschehnissen der letzten eineinhalb Jahren umgeht. Für die NZZ lässt Eric Gujer, der Chefredaktor persönlich, durchblicken, dass seine Zeitung nicht mehr alles publizistisch abnicken mag, was verordnet wird. Und SRF, bisher eine sichere Bank für die Regierung und ihre Beschlüsse, lädt Massnahmenkritiker in den «Club» ein.

Angesichts des bisher herrschenden medialen Einheitsbreis kann man da schon fast von einem Dammbruch sprechen, auch wenn er erst ein Rinnsal durchlässt.

Natürlich kann man die Frage nach der Glaubwürdigkeit stellen. Zeitungen oder TV-Sender, die eineinhalb Jahre keine Fragen gestellt haben und jede Prognose und Einschätzung des Bundesrats oder der Task Force ungeprüft passieren liessen, haben nun plötzlich die Freiheit des Worts wieder entdeckt und lassen Stimmen ausserhalb der vorgegebenen Leitplanken durch?

Allerdings gehört diese Debatte vertagt. Im Moment sollte man sich einfach darüber freuen, dass die vierte Gewalt zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückgefunden hat. Denn es war immer klar, dass der Schlüssel zu einer sachlichen, unaufgeregten und verhältnismässigen Auseinandersetzung mit Covid-19 bei den Medien liegt. Sie prägen die öffentliche Wahrnehmung; ein Livestream eines Bundesrats schafft das alleine nicht.

Wenn das Orchester nun endlich auch Zwischentöne zulässt, gibt das Anlass zu Hoffnung.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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